Maike Siebold

Rille aus dem Luftschacht


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Panik lässt Roderich den Ball fallen und stürzt hinaus. Er hetzt die Treppe hinunter. Zu Hause angekommen, knallt er die Tür hinter sich zu und dreht den Schlüssel mehrmals um. Geschafft!

      Keuchend lehnt Roderich an der Tür. Er versucht, ruhig durchzuatmen und klar zu denken: Ein Auge hinter der Fahrstuhltür kann es nicht geben. Um sich auf andere Gedanken zu bringen, setzt sich Roderich vor den Fernseher und zappt nervös durch die Kanäle. Da klingelt es an der Haustür.

      „Wer ist da?“, ruft Roderich ängstlich.

      Es ist seine Mutter, die nicht in die Wohnung kommt. „Warum hast du denn abgeschlossen und den Schlüssel stecken lassen?“

      Aufgeregt versucht Roderich, seiner Mutter den Grund zu erklären. „Da war ein Auge im Fahrstuhl.“

      Seine Mutter hat es eilig, ins Bad zu kommen. „Was für ein Auge? Du hast zu viel Fantasie!“

      „Hast du es nicht gesehen? Da ist ein Auge hinter der Fahrstuhltür.“ Roderich hört die Toilettenspülung und dann wieder seine Mutter:

      „Nein, Roderich, ich habe kein Auge im Fahrstuhl an­getroffen, sieht man von meinem eigenen Augenpaar ab. Apropos sehen, zeig mir doch mal deine Hausaufgaben.“

      Das ist so typisch für Erwachsene, denkt Roderich. Die verstehen einfach nicht, was wirklich wichtig ist. Er erlebt etwas Grausiges und seiner Mutter fällt nichts Besseres ein, als nach seinen Hausaufgaben zu fragen. Während er noch überlegt, ob er Angst hat oder eigentlich nur wütend ist, öffnet sich die Wohnungstür und sein Vater tritt in den Flur.

      Leider ist auch der keine wirkliche Hilfe. Immerhin bietet er Roderich als Trostpflaster für seinen Hausarrest an, morgen mit ihm Fußball zu spielen.

      „Und das Auge?“, startet Roderich einen letzten Ver­such, mit seinen Eltern das Erlebnis zu klären.

      „Das kann mitspielen!“, antwortet sein Vater mit einem Schmunzeln auf den Lippen.

      Seine Eltern haben offensichtlich keinen Schimmer, worum es wirklich geht. Er hat das Auge nicht geträumt. Es war wirklich da. Vielleicht gibt es im Haus einen Fahr­­­stuhlgeist. Jetzt wäre es gut, einen Freund zu haben, mit dem er reden könnte.

      Um sich abzulenken, denkt er an morgen. Endlich mal wieder nach draußen und mit seinem Vater Fußball spielen. Aber … wo ist eigentlich der Ball? Siedend heiß fällt ihm ein, dass er seinen nagelneuen Lederfußball im Fahrstuhl liegen gelassen hat. Mist! Dorthin geht er aber jetzt auf keinen Fall zurück. Morgen vor der Schule wird er bei dem Hausmeister Herrn Waschmaschinski nachfragen, ob ein anderer Fahrgast den Ball gefunden und bei ihm abgegeben hat. Vielleicht hat er ja Glück.

      Der Hausmeister strahlt, als er am nächsten Tag auf Roderich zukommt, doch er hat keine guten Nachrichten für ihn. „Deinen Ball habe ich nicht gefunden. Tut mir leid! Ich habe zwei Extra-Touren durchs Haus gedreht, aber ohne Erfolg. Dafür aber habe ich eine Matratze, eine Zahnbürste und einen alten Katalog auf dem Dachboden gefunden. Hast du eine Idee, wem diese Sachen gehören könnten?“

      Bei der Frage schaut er ihn freundlich, aber prüfend an. Roderich ist nicht richtig bei der Sache und schüttelt stumm den Kopf. Ihn interessieren keine Zahnbürsten, er will seinen Fußball wiederhaben.

      Der Hausmeister verspricht, seine Augen weiter offen zu halten. „Frag doch mal bei den anderen im Haus nach. Vielleicht hat ihn jemand gefunden und mitgenommen.“

      Mitgenommen hat ihn vielleicht jemand, aber kein Kind, sondern eher ein Geist, denkt Roderich. Plötzlich weiß er, was zu tun ist. Er muss einen Brief an den Ball-Entführer schreiben: den Fahrstuhlgeist!

      Als er in die Wohnung kommt, setzt er sich sofort an den Schreibtisch, reißt eine Seite aus seinem Rechenheft und schnappt sich seinen Füller. Die Worte fließen wie von selbst aus seinem Stift:

      Roderich faltet den Brief zusammen und geht entschlossen zum Fahrstuhl.

      Seit seinem Horrorerlebnis mit dem Auge hat er getreu einem der Lieblingssätze seiner Mutter – Bewegung ist gesund! – einen großen Bogen um den Fahrstuhl ge­macht und stattdessen die Treppe benutzt. Nun steht er wieder davor und drückt mit zusammengekniffenen Augen auf den Knopf. Surrend schiebt sich die Tür auf. Roderich betritt vorsichtig die Kabine. Er lauscht. Hinter der Rück­­wand rührt sich nichts. Langsam schiebt er den Brief durch den Schlitz. Als das Papier auf der anderen Seite zu Boden fällt, ertönt hinter ihm eine vertraute, aber unangenehme Stimme.

      Es ist Klatsche. Wo der Angeber auftaucht, gibt es Ärger. Er geht ihm am besten aus dem Weg.

      Gerade als Roderich dies tun will, tritt Klatsche in den Fahrstuhl und die Tür schließt sich hinter ihm. Jetzt sitzt er mit dem miesen Giftzwerg in der Kabine fest. Sofort be­ginnt Klatsche seinem schlechten Ruf gerecht zu werden.

      „Sieh an, der kleine Tintenpisser aus dem vierten Stock. Na, wie wäre es mit einer gemeinsamen Fahrt in die Tiefe? Onkel Klatsche zeigt dir mal die richtig schönen Ecken im Haus.“

      „Ich steig aus. Ich will keine blöden Ecken sehen“, bringt Roderich mit trockener Kehle hervor.

      „Nur keine Panik, du kannst gleich wieder zu deiner Mama“, antwortet Klatsche und verzieht das Gesicht zu einem fiesen Grinsen.

      Als der Fahrstuhl hält, sind sie im Keller gelandet.

      „Los, steig aus! Worauf wartest du? Muss ich nachhelfen?“

      „Aber wir sind im Keller und ich wohne im vierten Stock“, setzt Roderich an. Leider fällt ihm nichts Besseres ein. Klatsche weiß ja, wo er wohnt, nur zwei Stock­­­­werke über ihm.

      „Tja, dann musst du wohl deine Streichholzbeinchen ein wenig bewegen. Los, raus.“ Klatsche schubst Roderich in Richtung Tür.

      Zwei Sekunden später steht Roderich vor dem verschlossenen Fahrstuhl und hämmert mit seinen Fäusten dagegen.

      „He, nimm mich mit!“ Du elender Blödmann!, will er noch schreien, doch der Fahrstuhl fährt schon wieder hoch und er hört nur noch das immer leiser werdende Hohngelächter von Klatsche.

      Die Lösegeldforderung

      „Um ein Haar hätte ich mir den Hals gebrochen“, hört Roderich seinen Vater durch den Hausflur brüllen.

      Roderich springt aus seinem Zimmer. „Was ist denn?“, fragt er besorgt.

      „Dein Ball lag vor der Haustür und ich bin darüber gestolpert. Das ist passiert!“

      „Was für ein Ball?“

      Sein Vater schüttelt den Kopf. „Ja, was für ein Ball wohl? Dein neuer Lederfußball! Jetzt stell dich doch nicht so begriffsstutzig an.“

      Roderich nimmt den Ball und dreht ihn in seinen Händen. Gleichzeitig mit seinem Vater entdeckt er schwarze Zeichen auf dem runden Leder.

      „Roderich, was sollen denn die Buchstaben da drauf? Du hast deinen neuen Ball ja total verschandelt. Das ist doch kein Scrabblespiel.“ Das Gesicht seines Vaters hat sich leicht rötlich verfärbt.

      „Ich war es nicht, Papa. Ehrenwort. Keine Ahnung, wer meinen Ball vollgekritzelt hat“, verteidigt sich Roderich.

      Erst am Abend hat Roderich Zeit, die Buchstaben in Ruhe zu studieren. Mit gekreuzten Beinen hat er es sich auf seinem Bett bequem gemacht, um den Ball zu untersuchen. Durch das Fußballspielen mit seinem Vater sind einige Buchstaben schon etwas verwischt. Nach und nach entziffert er ein E, ein H, ein D, ein I, noch ein E, ein N, ein R und ein Z. Was soll das bedeuten? Roderich schreibt die Buchstaben in unterschiedlicher Reihenfolge in sein Deutschheft.

      „Niehrzed? Das ergibt keinen Sinn!“ Roderich denkt laut, was ihm bei kniffligen Aufgaben oft auf die Sprünge hilft. „Diehrnze, Ziehrend – das bekomme ich ja nie raus.“

      Roderich kann nicht einschlafen. Als um Mitternacht