William Boyd

Eine große Zeit


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kam wie immer aus der Pistole geschossen und lautete Nein. Das hatte er bereits ausprobiert und es stand ihm nicht; es ließ ihn dreckig erscheinen, als hätte er versäumt, sich einen Klecks Ochsenschwanzsuppe von der Oberlippe zu wischen. Für einen Schnurrbart hatten seine Haare nicht den richtigen Braunton. Bei einem jungen Gesicht war ein Schnurrbart nur gerechtfertigt, wenn er einen starken Kontrast erzeugte – wie bei diesem Munro von der Botschaft, beinah schwarz und völlig akkurat, wie angeklebt.

      Er zog sich mit Bedacht an, kombinierte seinen leichten marineblauen Anzug mit schwarzen Budapestern und einem weißen Stehkragenhemd sowie einer scharlachroten, getüpfelten Krawatte mit einfachem Knoten. Ein knalliger Farbtupfer, der seine ach so künstlerische Ader anzeigen sollte. Sein Vater hätte das nicht gebilligt – Halifax Rief, selbst stets elegant und erlesen gekleidet, war der Ansicht gewesen, dass niemand den Stil eines Mannes beziehungsweise die Mühe und Sorgfalt, die er auf seine Kleidung verwendete, bemerken sollte, ehe nicht mindestens fünf Minuten verstrichen waren. Jegliche Form von Zurschaustellung fand er geschmacklos.

      Lysander entschloss sich, das Kunsthistorische Hofmuseum am Burgring zu besichtigen. Er war sich darüber im Klaren, dass das nur eine symbolische Handlung war, völlig sinnlos, aber er sah sich in der Galerie herumstehen, die Hoffs Werke ausstellte, von lauter Menschen umgeben, die sich alle mit klassischer und zeitgenössischer Kunst auskannten und zu allem eine Meinung hatten. Wie sollte er mit diesen Intellektuellen, Kunstkritikern, Sammlern und Experten ins Gespräch kommen? Wieder wurden ihm die riesigen Lücken bewusst, die in seiner Allgemeinbildung klafften. Shakespeare, Marlowe, Sheridan, Ibsen, Shaw konnte er seitenweise zitieren – zumindest jene Werkauszüge, die er im Lauf seiner Tätigkeit hatte pauken müssen. Er hatte eine Menge Lyrik des 19. Jahrhunderts gelesen – diese Lyrik liebte er –, aber er hatte so gut wie keine Ahnung von der sogenannten »Avantgarde«. Er kaufte regelmäßig Zeitungen und Zeitschriften, verfolgte mehr oder weniger das Weltgeschehen und die europäische Politik – auf den ersten Blick wirkte er wie die äußerst glaubwürdige Verkörperung eines weltläufigen, gebildeten, kompetenten Zeitgenossen, doch wenn er auf echten Geist und Intellekt traf, erkannte er jedes Mal, wie dürftig seine Maskerade war. Du bist doch Schauspieler, ermahnte er sich, dann spielst du ihnen eben etwas vor! Außerdem hast du noch jede Menge Zeit, dir Wissen anzueignen, du bist beileibe kein Idiot, im Gegenteil, graue Zellen hast du zuhauf. Es ist ja nicht deine Schuld, dass du ständig die Schule wechseln musstest und deine Bildung darunter gelitten hat. Als Erwachsener hast du dich eben auf deine Theaterkarriere konzentriert – Vorsprechen, Proben, kleine Rollen, die zunehmend größer wurden. Eigentlich hatte er nur im letzten Stück, in dem er mitgespielt hatte – Ein romantisches Ultimatum –, eine nennenswerte Hauptrolle gehabt, immerhin die zweite männliche Hauptrolle, auf dem Plakat prangte sein Name in genauso großen Lettern wie der von Mrs Cicely Brightwell, keinen Millimeter kleiner, und daran zeigte sich klar und deutlich, wie weit er es binnen weniger Jahre schon gebracht hatte. Sein Vater wäre stolz auf ihn gewesen.

      Im Museum lief er durch die großzügigen Säle im ersten Stock, betrachtete die düsteren, firnisbedeckten Bilder von Heiligen und Madonnen, antiken Gottheiten und melancholischen Kreuzigungen, trat näher, um die Künstlernamen am Rahmenrand zu lesen, und hakte sie in Gedanken ab. Caravaggio, Tizian, Bonifazio, Tintoretto, Tiepolo. Natürlich waren ihm diese Namen geläufig, doch nun konnte er sagen: »Kennen Sie Bordones Version von Venus und Adonis? Wie’s der Zufall will, habe ich sie mir heute im Hofmuseum angesehen. Wirklich ergreifend, ein Meisterwerk.« Nach und nach entspannte er sich. Es war schließlich auch nur Theater, und das wiederum war sein Metier, seine Berufung, sein Spezialgebiet.

      Er ging weiter. Auf einmal waren die Maler alle holländisch – Rembrandt, Frans Hals, Hobbema, Memling. Und was war das? Überfall auf einen Wagenzug von Philips Wouwerman. Kraftvoll, abgründig, dunkelhäutige Räuber, die mit silbernen Entermessern und spitzen Hellebarden angriffen. »Sind Sie mit Wouwermans Werk vertraut? Es hat eine ungeheure Wucht.« Wo waren eigentlich die Deutschen? Ach, hier also – Cranach, d’Pfenning, Albrecht Dürer … Doch inzwischen verwirbelte und verballhornte er im Geist die vielen Namen und wurde schlagartig müde. Zu viel Kunst – museale Erschöpfung. Zeit für eine Zigarette und einen Kapuziner. Er hatte genug Stoff gesammelt, um für flüchtigen Smalltalk aller Art gewappnet zu sein – es ging ja nicht darum, eine Anstellung als Kurator zu ergattern, um Himmels willen.

      Am Ring entdeckte er eine Bude, wo er, am Tresen gelehnt, eine Virginia rauchte und an seinem Kaffee nippte. Wirklich eine Prachtstraße, dachte er – in London gab es nichts Vergleichbares, allerhöchstens die Mall, die dagegen aber deutlich abfiel. Der ausgedehnte Kreis, den der Straßenzug um den alten Stadtkern bildete, die sorgfältig angeordneten Palais und öffentlichen Bauten mit ihren Park- und Gartenanlagen. Wunderschön. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr – bevor er sich in der Galerie zeigen konnte, musste er noch eine gute Stunde totschlagen. Er fragte sich, wie Udo Hoff wohl sein mochte. Wahrscheinlich sehr prätentiös, genau die Sorte Mann, die auf Miss Bull eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausüben dürfte.

      Er schlenderte auf den spitzen Rathausturm zu. Dabei hörte er eine laute Stimme ertönen, und als er näher kam, sah er Hunderte von Menschen, die sich im kleinen Rathauspark zusammendrängten. Auf einem hölzernen Podium von etwa 1,80 Meter Höhe rief ein Mann herrische Worte durch sein Megafon.

      Während die Tageshitze langsam abklang, rasten Automobile und Kraftomnibusse vorbei. Der Feierabendverkehr hatte eingesetzt. Wie Überbleibsel einer vergangenen Epoche klapperten Touristen in Pferdekutschen am Bordstein entlang. Allenthalben schlängelten sich Radfahrer durch den Verkehr. Lysander überquerte die Straße mit der gebotenen Vorsicht und schloss sich der murmelnden Menschenmenge an.

      Offenbar handelte es sich um Arbeiter, die sich in ihrer symbolträchtigen Kluft zu dieser Versammlung eingefunden hatten. Zimmermänner in Latzhosen, den Hammer am Gürtel befestigt, Steinmetze mit Lederschürzen, Automechaniker in Overalls, Chauffeure, die Lederhandschuhe und Doppelreiher trugen, Förster mit langen Handkettensägen. Es gab sogar eine Gruppe von mehreren Dutzend Minenarbeitern, schwarz vor Kohlenstaub, die Gesichter so dunkel verschmiert, dass die Zähne gelb wirkten und das Weiße im Auge verstörend hervorstach.

      Lysander trat noch näher heran, neugierig, eigenartig fasziniert von den schwarzen Gesichtern und Händen. Ihm wurde bewusst, dass er zum ersten Mal richtige Minenarbeiter sah, anders als bisher die Abbildungen in Büchern und Zeitschriften. Sie hörten dem Redner aufmerksam zu, der unaufhörlich über Stellen und Löhne blaffte, über slawische Gastarbeiter, die den rechtmäßigen Verdienst der österreichischen Arbeiter unterboten. Während seine Ansprache immer flammender wurde, begannen seine Zuhörer zu klatschen und zu johlen. Lysander wurde von einem Mann angerempelt, der sich höflich, ja wortreich bei ihm entschuldigte.

      Lysander drehte sich um. »Schon gut«, sagte er.

      Der Mann war jung, Anfang zwanzig, er trug einen grauen Filzhut, dem das Band abhandengekommen war, und seine langen dunklen Haare hingen über den Kragen. Sein Bart war schütter und ungepflegt. Trotz des schönen Wetters trug er einen kurzen gelben Umhang mit Gummibeschichtung. Darunter hatte er kein Hemd, wie Lysander nun sah – ein Landstreicher, ein Geisteskranker. Er dünstete den sauren Geruch der Armut aus.

      Bei einem neuerlichen Ausbruch des Redners johlte die Menge laut auf.

      »Die haben ja keine Ahnung«, schimpfte der Umhangträger. »Nichts als leere Worte, heiße Luft.«

      »Politiker«, sagte Lysander und verdrehte demonstrativ die Augen. »Alle gleich. Worte sind ja wohlfeil.« Nun fiel ihm auf, dass er allmählich Blicke auf sich zog. Wer war wohl dieser herausgeputzte junge Mann mit der getüpfelten Krawatte, der sich mit dem Irren unterhielt? Zeit zu gehen. Er ließ die Gruppe von Minenarbeitern hinter sich – schwarze Troglodyten, die ihren unterirdischen Höhlen entstiegen waren, um die moderne Metropole zu entdecken. Lysander spürte auf einmal die Idee zu einem Gedicht in sich heranreifen.

      Die Bosendorfer-Renz-Galerie lag in einer Seitenstraße des Graben. Lysander verharrte zunächst in einiger Entfernung, um sich zu vergewissern, dass tatsächlich Besucher hineingingen – die Anwesenheit von anderen würde ihm die nötige Sicherheit geben. Mit gezückter Einladung trat er auf die Tür zu, doch offenbar überprüfte niemand die Identität der Gäste, und so