William Boyd

Eine große Zeit


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Tee haben wir immer dort eingenommen.«

      »Wie sieht der Boden aus?«

      »Ein klassischer Parkettboden mit einem sehr schönen Teppich – einem Shiraz.«

      Langsam, aber sicher brachten die Fragen immer mehr präzise Details ans Licht. Lysander erlebte, wie dieser Paralleltag, an dem nichts vorgefallen war, sich stufenweise konkretisierte, zur greifbaren Wirklichkeit wurde, die den ursprünglichen katastrophalen Tag mit seinem Rattenschwanz an diffusen Erinnerungen in den Schatten stellte. Der verhängnisvolle Nachmittag verblasste allmählich und verschwand hinter der wachsenden Sammlung von Fakten und Einzelheiten aus der neuen Parallelwelt. Im Lauf der Sitzungen stellte er fest, dass er diese neue Welt viel besser heraufbeschwören konnte als die alte; die fiktiven Erinnerungen nahmen, von seiner fonction fabulatrice angetrieben, Gestalt an, übertrumpften die quälenden Urbilder, ließen sie derart verschwimmen und undeutlich werden, dass er sich mit der Zeit fragte, ob sie nicht bloß vage Reminiszenzen an einen Albtraum waren.

      Bald positionierte er seine Mutter nach der Teestunde am Klavier – einem Stutzflügel – und brachte sie dazu, mit ihrem klangvollen Mezzosopran ein Schubertlied zu singen. Von der Musik angelockt, gesellte sich Lord Faulkner zu ihnen und rauchte eine Zigarre; vom Rauch musste Lysander niesen. Lord Faulkner bestellte eine frische Kanne Tee, und zwar Assam, seine Lieblingssorte. Die Tatsache, dass es sich dabei um das Ergebnis einer autosuggestiven Übung handelte, entwertete diese »Erinnerungen« nicht im Geringsten, wie Lysander erkannte. Durch einen reinen Willensakt, Ausdauer und Genauigkeit hatte er seine Parallelwelt so weit gedeihen lassen, dass sie sein Gedächtnis beherrschte, genau, wie Bensimon vorhergesagt hatte, und das häusliche Wohlbehagen an diesem neuen fiktiven Tag sämtliche Eindrücke verdrängte, die ihm solchen Kummer bereitet und unerträgliche Scham ausgelöst hatten.

      Als er seinen Panamahut vom Ständer nahm, trat Bensimons strenge, bebrillte Sprechstundenhilfe mit einem Umschlag vor ihn. Wahrscheinlich eine Quittung über die Zahlung vom vergangenen Monat, dachte er.

      »Herr Rief«, sagte sie, ohne ihm in die Augen zu sehen. »Das wurde für Sie hinterlegt.«

      Lysander nahm den Brief und las ihn auf dem Weg nach unten. Er war von Hettie.

      »Komm nächsten Mittwoch um sechs. U fährt nach Zürich. Pack ein paar Sachen ein.«

      Lysander spürte eine unbändige Aufregung in sich aufsteigen. Es ging ihm wie einem Jungen, der mitten im Schuljahr beurlaubt wird – dieses Gefühl geschenkter Freiheit, unverhoffter Möglichkeiten. Unterwegs kam er jedoch auf dunklere Gedanken. Sicher konnte er Hettie für seine »Heilung« dankbar sein, aber er durfte nicht außer Acht lassen, dass sie ihn in die Falle gelockt hatte und er arglos hineingetappt war – was sich zwischen ihnen abgespielt hatte, musste zwangsläufig passieren. Das konnte er gerade noch mit seinem Gewissen vereinbaren – es war ein einmaliger Lapsus gewesen, der seine Ehre nur vorübergehend befleckte, ein Augenblick rasender Leidenschaft, den er getrost ad acta legen und vergessen konnte. Niemand wusste davon, niemand war verletzt worden. Doch wenn er Hettie erneut aufsuchen und ein oder zwei Nächte mit ihr verbringen würde, läge der Fall gleich ganz anders. Wollte er seine Verlobung, seine Beziehung und Zukunft mit Blanche nicht aufs Spiel setzen, musste er Hettie absagen – es durfte sich nicht wiederholen, sonst wäre er verloren, das wusste er.

      Am Burgtheater überquerte er den Ring und musste sofort an Udo Hoff und dessen architekturkritische Tirade denken. Und daraus erwuchs wiederum eine gewisse prickelnde Euphorie bei der Vorstellung, Hettie wiederzusehen. Er malte sich aus, wie es wohl wäre, eine ganze Nacht mit ihr in diesem schmalen Bett zu verbringen, dann morgens aufzuwachen, warm und noch schläfrig, Schenkel an Schenkel, sich umzudrehen und nach ihr zu greifen …

      In der Pension setzte er sich gleich hin und schrieb an Blanche, um die Verlobung zu lösen. Das war der einzige ehrbare Ausweg, auch wenn die Lügen aus seiner Feder nur so flossen. Er teilte ihr mit, er sei, nachdem er in Wien mehrere Ärzte und Psychoanalytiker konsultiert habe, zur Überzeugung gelangt, dass ihn höchstens eine äußerst aufwendige und langwierige Kur heilen könne. Außerdem sei er in Sorge über das bedenkliche Ausmaß seiner »mentalen Erregung«, und angesichts all dessen habe er das Gefühl, es sei mit »Rücksicht auf Dich, liebste Blanche, dringend geboten, Dich von Deinen Versprechen und Gelöbnissen zu entbinden«. Er bat sie um Verzeihung und Verständnis und ermunterte sie, nach Belieben mit dem Ring zu verfahren, den er ihr geschenkt hatte – sie könne ihn in die Themse werfen, verkaufen, einer Nichte oder Patentochter vermachen –, was immer ihr am passendsten erschiene. Er würde ihre Schönheit und liebevolle Art stets in Erinnerung behalten und bedauere zutiefst, dass ihn diese »widrigen Umstände« daran hinderten, ihr ergebener Gatte zu werden.

      Lysander versiegelte den Umschlag mit gemischten Gefühlen – Schuldbewusstsein, Trauer und überschwänglicher Freude sowie leiser Selbstzufriedenheit, weil er dem falschen Spiel so schnell ein Ende bereitet hatte. Hinzu kam ein erhebendes Moment der Erlösung. Er war nun ein freier Mann – seine leidige Anorgasmie gehörte der Vergangenheit an, war nur mehr eine schlimme Erinnerung. Und aus der Liaison mit Miss Bull konnte alles Mögliche werden. Er nahm sich jedoch vor, keine Zukunftspläne zu schmieden, ehe er sie wiedergesehen hatte. Seine Aufregung speiste sich schließlich auch aus einem echten Gefühl von Bedrohung – in den Kulissen lauerte ein betrogener Liebhaber –, ganz abgesehen von Hetties heftigen Stimmungsschwankungen (er hatte sie selbst miterlebt – er blendete sie keinesfalls aus). Doch das Einzige, woran er im Augenblick denken konnte, war der nächste Mittwoch.

      Beim anschließenden Abendessen sagte Wolfram zu ihm: »Offenbar bist du allerbester Laune, Lysander.«

      »Das bin ich in der Tat«, gestand er. »Jetzt weiß ich nämlich, dass diese Wienreise das Beste ist, was ich jemals unternommen habe.«

      »Das höre ich gern, Herr Rief«, sagte Frau K. »Ich war schon immer der Meinung, dass Wien die angenehmste Stadt Europas ist.«

      »Der Welt«, fügte Lysander hinzu. »Die angenehmste Stadt der Welt.«

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