Charles Dickens

Klein-Doritt


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Ausbrüche in ein gebrochenes Murren übergingen, als ob der Schmerz die Oberhand über sie gewänne. In entsprechenden Abstufungen sank sie in einen Stuhl, dann auf die Knie, dann auf den Boden neben dem Bett, indem sie die Decken mit sich zog, halb, um verschämt den Kopf und das nasse Haar darein zu hüllen, halb, wie es schien, um sie zu umarmen und wenigstens etwas an die reuige Brust zu drücken.

      »Weichen Sie von mir! Weichen Sie von mir! Wenn mein böser Geist über mich kommt, bin ich eine Tolle. Ich weiß, ich könnte ihn von mir fernhalten, wenn ich nur wollte, und bisweilen gebe ich mir auch Mühe. Zu andern Zeiten aber will und tu ich's nicht. Was habe ich gesagt! Ich wußte, als ich's sagte, daß es lauter Lüge war. Sie glauben, irgend jemand werde wohl für mich gesorgt haben, und ich hätte, was ich brauchte. Sie sind stets gut gegen mich. Ich liebe sie von Herzen. Niemand könnte liebevoller gegen ein undankbares Geschöpf sein, als sie es immer gegen mich waren. Gehen Sie, ich fürchte mich vor Ihnen. Ich fürchte mich vor mir selbst, wenn mein böser Geist über mich kommt. Gehen Sie und lassen Sie mich beten und weinen, daß ich besser werde.«

      Der Tag neigte sich, und wieder starrte sich das grelle Weiß müde. Die heiße Nacht lag auf Marseille, und die Gesellschaft von diesem Morgen zerstreute sich durch die Dunkelheit nach allen Richtungen. So ziehen wir ruhelosen Wanderer bei Tag und Nacht, unter Sonne und Sternen, an staubigen Hügeln hinan und über ermüdende Ebenen, zu Land und zur See, bald kommend, bald gehend, hinüber und herüber aufeinander einwirkend, durch die wunderbare Pilgerfahrt des Lebens.

      Es war ein düsterer, stiller und öder Sonntagabend in London. Tollmachende Kirchenglocken von allen Graden des Mißklangs, schneidend und klar, dumpf und hell, schnell und langsam, weckten häßliche Echos aus Ziegel und Mörtel. Melancholische Straßen, im Büßergewand von Ruß, versetzten die Seele der Leute, die verdammt waren, aus ihren Fenstern auf sie herabzusehen, in die traurigste Niedergeschlagenheit. In jeder Durchfahrt, beinahe in jedem Gäßchen und fast an jeder Ecke hörte man eine klägliche Glocke schlagen, läuten, wimmern, als ob die Pest in der Stadt wäre und die Totenwagen die Runde machten. Alles war verriegelt und verschlossen, was nur entfernte Möglichkeit bieten konnte, 34 ein von der Arbeit müdes Volk zu zerstreuen. Keine Bilder, keine seltenen Tiere, keine seltenen Pflanzen oder Blumen, keine natürlichen oder künstlichen Wunder der Alten Welt – alles war durch die Strenggläubigkeit für tabu4 erklärt, daß die häßlichen Götter der Südsee im Britischen Museum sich nach Hause versetzt glauben konnten. Nichts war zu sehen als Straßen und Straßen und wiederum Straßen. Nichts zu atmen als Straßen und Straßen und wiederum Straßen. Nichts, um das gedrückte Gemüt zu zerstreuen oder zu erheitern. Nichts blieb dem müden Arbeiter, als die Monotonie des siebenten Tages mit der Monotonie seiner sechs Tage zu vergleichen, darüber nachzudenken, wie langweilig sein Leben, und je nach der Wahrscheinlichkeit sich die beste oder schlimmste Seite desselben herauszukehren.5

      Zu dieser so glücklichen und für die Interessen der Religion und Moral so günstigen Stunde saß Mr. Arthur Clennam, soeben von Marseille mit dem Doverer Wagen, dem »blauäugigen Mädchen«,6 angekommen, an dem Fenster eines Kaffeehauses in Ludgate Hill. Zehntausend gewissenbelastete Häuser umgaben ihn, so finster auf die Straßen blickend, zu denen sie gehören, als ob jedes von den zehn Jünglingen aus der Geschichte vom Calander bewohnt wäre, die jede Nacht ihre Gesichter schwarz machten und ihr Schicksal bejammerten. Fünfzigtausend Höhlen umgaben ihn, so ungesunde Wohnungen für Menschen, daß reines Wasser, das man Sonnabendabend in ihre überfüllten Zimmer stellte, bis zum Sonntagmorgen abgestanden war: obgleich Mylord, das Mitglied für ihre Grafschaft, erstaunt war, daß sie nicht das Fleisch vom Metzger über Nacht in dasselbe Zimmer legten, in dem sie schliefen. Meiler von tiefen Brunnen und Fallgruben von Häusern, in denen die Bewohner nach Luft schnappten, streckten sich weit hinaus nach allen Richtungen des Kompasses. Durch das Herz der Stadt ebbte und flutete eine pestaushauchende Kloake statt eines schönen, erfrischenden Stromes. Welches weltliche Bedürfnis konnte diese Million oder mehr Menschen haben, deren tägliche Arbeit – sechs Tage die Woche – inmitten dieser arkadischen Umgebung verrichtet werden mußte, aus deren süßer Einförmigkeit zwischen Wiege und Grab kein Entrinnen war, – welch weltliches Bedürfnis konnten sie am siebenten Tage haben? Natürlich brauchten sie nichts als einen strengen Polizeidiener.

      Mr. Arthur Clennam saß am Fenster des Kaffeehauses in Ludgate Hill, zählte die Schläge einer der nahen Glocken, machte unwillkürlich Sentenzen und Refrains daraus und dachte daran, wie vielen kranken Leuten sie wohl im Laufe eines Jahres den Tod verkünde. Als die Stunde zu Ende ging, wurde ihr Takt immer rascher.

      Beim dritten Viertel kam sie in eine Stimmung ungemein lebhaften Ungestüms und mahnte das Volk in geläufiger Rede: »Kom–mt zur Kirche, kom–mt zur Kirche, kom–mt!« Binnen zehn Minuten wurde sie gewahr, daß die Gemeinde sich spärlich versammelte und hämmerte langsamer mit niedergeschlagenem Tone: »Sie wollen nicht kommen, sie wollen nicht kommen, sie wollen nicht kommen!« Bei den letzten fünf Minuten verzichtete sie auf die letzte Hoffnung und erschütterte jedes Haus in der Nachbarschaft dreihundert Sekunden lang mit einem furchtbaren Schlage jede Sekunde, der wie das Gestöhn eines Verzweifelnden klang.

      »Gott sei Dank!« sagte Mr. Clennam, als die Uhr schlug und die Glocke innehielt.

      Aber ihr Klang hatte eine lange Reihe langweiliger Sonntage in die Erinnerung gerufen, und die Prozession wollte nicht enden, wie die Glocke, sondern setzte ihren Weg fort. »Der Himmel möge mir vergeben«, sagte er, »und denen, die mich erzogen haben. Wie ich diesen Tag von je gehaßt!«

      Er gedachte des traurigen Sonntags seiner Kindheit, wo er die Hände gefaltet dasaß, geschreckt durch ein gräßliches Traktätchen, das damit anfing, daß es gleich auf dem Titel den armen Knaben fragte: warum er in die Verdammnis gehe? – eine Neugierde, die der Knabe im Kinderröckchen und Höschen zu befriedigen außerstande war, – und das zur weiteren Erbauung des kindlichen Sinnes auf jeder zweiten Linie einen Spruch oder einen Hinweis hatte, an dem man sich verschlucken konnte, wie z.B. Thessaloniker Kap. III. V. 6 und 7.7 Er gedachte des schläfrigen Sonntags seiner Knabenjahre, wo er wie ein Sträfling durch den Lehrer dreimal des Tages, moralisch an einen andern Knaben gefesselt, nach der Kirche geführt wurde; und wo er bereitwillig zwei Platten unverdaulicher Predigt gegen einige Lote mittelmäßigen Hammelfleisches für sein dürftiges Mittagmahl im Fleische vertauscht. Er dachte des endlosen Sonntags seiner unmündigen Jahre, wo seine streng aussehende und hartherzige Mutter den ganzen Tag hinter der Bibel saß, die, wie ihre eigene Auslegung derselben, die härteste, kahlste und steifste Hülse hatte und nur einen Zierat auf dem Deckel besaß, der wie eine Kette aussah, und einen häßlich rotgesprenkelten Schnitt, als ob es vor allen Büchern ein Bollwerk gegen Weichheit des Gemüts, natürliche Zuneigung und freundlichen Verkehr des Menschen wäre. Er gedachte des nicht zu verschmerzenden Sonntags der späteren Jahre, wo er düster und mißvergnügt dem langsam verrinnenden Tag mit einem bittern Gefühl roher Kränkung im Herzen und mit nicht mehr Kenntnis von der heilverkündenden Geschichte des Neuen Testaments, als wenn er unter Götzendienern aufgewachsen, ins Antlitz schaute. Er gedachte einer Legion von Sonntagen, lauter Tage unnützer Bitterkeit und Kreuzigung, die langsam an seinem Blicke vorüberzogen.

      »Entschuldigen Sie, Sir«, sagte ein flinker Kellner, indem er den Tisch abrieb. »Wünschen Sie Schlafzimmer zu sehen?«

      »Ja. Ich dachte eben daran.«

      »Stubenmädchen!« rief der Kellner. »Der Herr von Numero 7 wünscht Zimmer zu sehen.«

      »Halt!« sagte Clennam, indem er aufstand. »Ich habe nicht bedacht, was ich sagte; ich antwortete ganz mechanisch. Ich werde nicht hier wohnen. Ich gehe nach Hause.«

      »So? Stubenmädchen, der Herr von Numero 7 schläft nicht hier, er geht nach Hause.«

      Er saß immer noch am selben Platz, als der Tag zur Neige ging, sah nach den finstern Häusern drüben und dachte, wenn die körperlosen Geister der früheren Bewohner noch etwas von jenen wüßten, müßten sie sich doch wegen ihrer ehemaligen Kerker bemitleiden. Bisweilen erschien ein Gesicht hinter der trüben Scheibe eines Fensters und verging wieder in der Dunkelheit, als ob es genug vom Leben gesehen und