Charles Dickens

Klein-Doritt


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Sie? Klein-Dorrit? Sie ist nichts – sie ist eine Grille von – ihr.« Es war eine Eigentümlichkeit von Affery Flintwinch, daß sie nie von Mrs. Clennam mit dem Namen sprach. »Aber es gibt noch andere Mädchen als dies. Haben Sie Ihre alte Neigung vergessen? Sicher schon lange, lange.«

      »Ich litt genug unter dieser Trennung, die das Werk meiner Mutter war, um nicht noch an sie zu denken. Ich erinnere mich ihrer recht gut.«

      »Haben Sie eine andre?«

      »Nein.«

      »So weiß ich Ihnen gute Botschaft. Sie ist jetzt wohlhabend und Witwe. Und wenn Sie sie noch haben wollen, läßt sichs leicht machen.«

      »Und woher wissen Sie das, Affery?«

      »Die beiden Gescheiten haben davon gesprochen. – Da ist Jeremiah auf der Treppe!« Sie war in einem Augenblick verschwunden.

      Mrs. Flintwinch hatte in das Gewebe, das sein Geist beständig in der alten Werkstatt, wo der Stuhl seiner Jugend stand, zu weben beschäftigt war, den letzten Faden, der zum Muster fehlte, eingeschlossen. Das Luftgebilde der Liebe eines Knaben hatte seinen Weg auch in dieses Haus gefunden; und die Hoffnungslosigkeit hatte ihm so große Schmerzen bereitet, als wäre das Haus ein romantisches Schloß gewesen. Kaum mehr als vor einer Woche hatte in Marseille das Gesicht des hübschen Mädchens, von dem er mit Bedauern scheiden mußte, ein ungewöhnliches Interesse für ihn gehabt und ihn wunderbar gefesselt, da es eine wirkliche oder eingebildete Ähnlichkeit mit jenem ersten Gesicht hatte, das sich aus seinem düstern Lebenskreise in die lichten Sphären der Phantasie aufgeschwungen. Er lehnte sich auf die Brüstung des langen niedern Fensters, blickte wieder hinaus auf den geschwärzten Wald von Kaminen und begann zu träumen. Es war ja doch die gleichmäßige Richtung in dieses Mannes Leben gewesen –, das so viel Entbehrungen in sich schloß, die Stoff zum Nachdenken boten, so viele, denen man eine bessere Wendung geben und womit man glücklicher hätte spekulieren können –, daß er zuletzt ein Träumer wurde.

      Wenn Mrs. Flintwinch träumte, so träumte sie gewöhnlich anders als der Sohn ihrer alten Herrin, nämlich mit geschlossenen Augen. Sie hatte einen wunderbar lebhaften Traum in jener Nacht, noch ehe sie den Sohn ihrer alten Herrin vergessen. Es schien auch in der Tat gar nicht ein Traum zu sein, so sehr trug alles vielmehr das Gepräge der Wirklichkeit. Nämlich so.

      Das Schlafzimmer von Mr. und Mrs. Flintwinch war nur wenig Schritte von dem entfernt, auf das Mrs. Clennam seit so vielen Jahren angewiesen war. Es lag nicht auf derselben Flur, denn es befand sich in einem Seitenflügel des Hauses, zu dem man über eine steile Treppe von einigen ausgetretenen Stufen gelangte, die von der Haustreppe beinahe gerade gegenüber von Mrs. Clennams Tür seitab führten. Man konnte kaum sagen, daß es im Bereiche der Stimme lag, da Wände, Türen und Getäfel des alten Hauses so schwer und dick waren; aber man konnte in jedem Kleid, zu jeder Zeit der Nacht und bei jeder Temperatur hinüberkommen. Zu Häupten des Bettes und einen Fuß von Mrs. Flintwinchs Ohr entfernt hing eine Glocke, deren Schnur bequem zur Hand Mrs. Clennams war. Sobald diese Glocke ertönte, fuhr Affery auf und stand in dem Zimmer der Kranken, ehe sie recht wach war.

      Nachdem sie ihre Herrin zu Bett gebracht, die Lampe angezündet und ihr gute Nacht gesagt, ging Mrs. Flintwinch selbst wie gewöhnlich schlafen – nur war ihr Gatte noch nicht erschienen. Ihr Gatte – und nicht das, woran sie zuletzt gedacht, wie die meisten Philosophen meinen – wurde der Gegenstand ihres Traumes.

      Sie glaubte zu erwachen, nachdem sie einige Stunden geschlafen, und fand Jeremiah noch nicht im Bett. Dann sah sie nach dem Licht, das sie hatte brennen lassen, so träumte sie, und danach die Zeit bemessend wie König Alfred der Große, wurde sie, da es schon ziemlich weit heruntergebrannt, in ihrer Überzeugung bestärkt, daß sie außerordentlich lange geschlafen haben müsse. Dann, träumte sie, sei sie aufgestanden, habe sich in ein Tuch gehüllt, die Schuhe angezogen und sei verwundert auf die Treppe hinausgegangen, um nach Jeremiah zu sehen.

      Die Treppe war von Holz und sehr fest; Affery ging gerade hinab, ohne irgendwie abzuschweifen, wie es bei Träumenden gewöhnlich vorzukommen pflegt. Sie streifte auch nicht leicht über die Treppe hin, sondern ging wie gewöhnlich hinab und hielt sich an dem Geländer, da ihr das Licht ausgegangen war. An einer Ecke der Vorhalle, hinter der Haustür, war ein kleines Wartezimmer, einer Brunnenstube ähnlich, mit einem langen, schmalen Fenster, das aussah, als ob man einfach die Wand aufgeschlitzt. In diesem Zimmer, das nie benutzt wurde, brannte ein Licht.

      Mrs. Flintwinch schritt über die Vorhalle, an den bloßen Füßen wohl fühlend, daß sie auf Steinen ging, und sah zwischen den rostigen Angeln der Tür hindurch, die offen stand. Sie erwartete Jeremiah in festem Schlaf oder in einer Ohnmacht zu sehen, aber er saß ruhig und ganz wach auf einem Stuhl; auch schien er gesund wie gewöhnlich. Doch wie? Der Herr verzeihe uns! Mrs. Flintwinch murmelte ein Stoßgebet und fing an zu taumeln.

      Denn der wachende Mr. Flintwinch bewachte den schlafenden Mr. Flintwinch. Er saß an der einen Seite eines kleinen Tisches und beobachtete mit scharfem Blick sein Ebenbild auf der andern Seite, dessen Kinn auf die Brust herabgesunken, wahrend er laut schnarchte. Der wachende Flintwinch hatte sein ganzes Gesicht seiner Frau zugewendet, während man den schlafenden Flintwinch nur im Profil sah. Der wachende Flintwinch war das alte Original; der schlafende Flintwinch dagegen war der Doppelgänger. Gerade wie sie einen greifbaren Gegenstand von seinem Bild im Spiegel hätte unterscheiden können, so unterschied sie alles ganz deutlich, während es mit ihr im Kreise herumging.

      Wenn sie noch einen Zweifel hätte haben können, welches ihr rechter Jeremiah sei, so wäre er durch seine Ungeduld gelöst worden. Er sah sich nach einer Angriffswaffe um, ergriff die Lichtschere, und ehe er damit das kohlköpfige Licht putzte, stieß er mit derselben auf den Schläfer los, als ob er sie ihm durch den Leib rennen wollte.

      »Wer ist das? Was gibt es?« rief der Schläfer auffahrend.

      Mr. Flintwinch machte eine Bewegung mit der Lichtschere, als wollte er ihn dadurch zum Schweigen zwingen, daß er sie ihm in den Hals stieß; als der andere zu sich kam, sagte er, die Äugen reibend: »Ich vergaß, wo ich war.«

      »Sie haben geschlafen«, brummte Jeremiah und sah auf die Uhr, »zwei volle Stunden sind es. Sie sagten, Sie hätten genug geschlafen, wenn Sie einen kleinen Nicker machen würden.«

      »Ich habe einen kleinen Nicker gemacht«, sagte der Doppelgänger.

      »Halb drei Uhr in der Früh'«, murmelte Jeremiah. »Wo ist Ihr Hut? Wo ist Ihr Rock? Wo ist Ihr Kästchen?«

      »Alles ist hier«, sagte der Doppelgänger, seinen Hals mit schläfriger Gleichgültigkeit in einen Schal wickelnd. »Warten Sie eine Minute. Geben Sie mir jetzt den Ärmel – nicht diesen Ärmel, den andern. Ach, ich bin nicht mehr so jung, wie ich war.« Mr. Flintwinch war ihm beim Anziehen des Rockes mit großem Eifer behilflich. »Sie versprachen mir ein zweites Glas, wenn ich geschlafen.«

      »Trinken Sie!« versetzte Jeremiah, »und ersticken Sie, hätte ich beinahe gesagt, – gehen Sie, wollte ich sagen.« Damit stellte er die nämliche Portweinflasche wie bei seiner Herrin auf und füllte ein Weinglas.

      »Ihr Portwein, dünkt mich?« sagte der Doppelgänger und kostete, als ob er in den Docks wäre.

      »Ihre Gesundheit.«

      Er trank einen Schluck.

      »Eure Gesundheit!«

      Er trank einen zweiten Schluck.

      »Seine Gesundheit!«

      Er trank einen dritten Schluck.

      »Und die Gesundheit aller Freunde rings um St. Paul.«

      Er leerte das Glas und schob es auf den Tisch, nachdem er dem alten feierlichen Toast Folge gegeben, und nahm das Kästchen auf. Es war ein eisernes Kästchen von ungefähr zwei Fuß im Geviert, das er ziemlich leicht unter dem Arme trug. Jeremiah beobachtete sein Tun mit eifersüchtigen Blicken, drückte auf das Kästchen, um zu sehen, ob er es auch festhalte, bat ihn, doch ja recht pünktlich seine Sache zu besorgen, und