Philipp Probst

Wölfe


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Die beiden Frauen sprachen nicht weiter darüber. Allerdings spürte Charlotte an Leas energischem und etwas rabiatem Arbeitsstil, dass sie erbost war. Vor allem beim Kämmen rupfte es einige Male empfindlich an Charlottes Kopfhaut.

      Als Charlotte zahlte, sagte sie: «Es war wundervoll bei dir, wie immer. Und wenn ich etwas Unpassendes gesagt habe, möchte ich mich dafür entschuldigen.»

      «Das musst du nicht, Charlotte», erwiderte Lea. «Das Unpassende, wie du es nennst, trifft eher auf Georg zu.»

      Kaum hatte Charlotte den Salon verlassen, zückte Lea ihr Handy und schrieb eine WhatsApp an ihren Freund Georg: «Es reicht! Dass du auch noch meine beste Freundin anmachst, ist total daneben.»

      Obwohl die nächste Kundin auf dem Frisierstuhl sass, musste Lea kurz nach draussen und durchatmen. Es war kalt, grau und feucht. Sie fror. Tränen schossen in ihre Augen.

      Wie hatte sie mit sich gerungen und Georgs Liebesbeteuerungen immer geglaubt. All seine Abwesenheiten, seine Chats auf dem Smartphone – irgendwie hatte Georg für alles eine Erklärung. Und so hatte Lea sich eingeredet, dass alles nur Hirngespinste waren und sich Georg wie immer verhielt, weder distanziert noch sonst irgendwie seltsam. Das Problem liege allein bei ihr. Zu viel Arbeit, zu viele Gedanken, Herbst … Nicht einmal mit Selma hatte sie über ihre Beziehungsprobleme geredet. Nein, sie wollte sie nicht wahrhaben und Georg vertrauen. Aber jetzt?

      Sie musste möglichst bald mit Selma reden. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und wählte Selmas Nummer auf dem Handy. Es klingelte. Es kam nur die Mailbox. «Hallo, Selma», sagte Lea, «bitte melde dich, ich muss dringend mit dir reden.»

       7

      Selma hatte Glück gehabt. Sie war in der Gletscherspalte ein paar Meter tiefer erneut steckengeblieben. Zuerst war sie nach einem kurzen Fall mit der Schulter auf einen schmalen Eisabsatz geknallt und hatte dabei einen halben Purzelbaum geschlagen, sodass ihr Kopf nun wieder oben war. Daraufhin hatte sich ihr linker Ski in der Spalte verkantet. Dadurch war das Allerschlimmste verhindert worden.

      Vorerst. Denn allmählich bog sich der Ski bedrohlich durch. Selma befand sich in einer äusserst unbequemen Schräglage. Ihr Oberkörper war zudem in der Spalte eingeklemmt, was ihr das Atmen erschwerte. Selma war etwas benommen, realisierte ihre Lage aber sofort. Die Schulter schmerzte, doch sonst war sie unverletzt und soweit okay. Allerdings war ihr klar, dass das Eis unter dem Druck und wegen ihrer Körperwärme schmelzen und sie weiter in die Tiefe fallen könnte. Zudem würde sich bei einem nächsten Ruck wohl auch die zweite Bindung öffnen. Oder der Ski könnte brechen. Da sie das Smartphone in ihrem Rucksack klingeln gehört hatte, war also eine Verbindung möglich, und Lasse hatte sicher die Bergretter alarmiert.

      Sie hörte den Gletscherbach in der Tiefe. Dort unten war es nur schwarz. Vorsichtig schaute Selma nach oben. Sie sah Licht.

      «Selma!» Das war Lasses Stimme. «Selma?»

      «Ja?»

      «Selma!»

      Die Reporterin schrie: «Ja, ich stecke fest!» Ihr Brustkorb tat dabei weh.

      «Das ist gut!», schrie Lasse zurück. «Ole und ich werden dich herausholen. Bist du verletzt?»

      «Nein!»

      «Kannst du dich bewegen?» Das war nun Oles Stimme.

      «Ein bisschen.»

      «Kommst du an den Rucksack?»

      «Nein.»

      «Selma, du musst an den Rucksack kommen!»

      «Wenn ich mich bewege, dann …»

      «Selma, du musst auf der linken Seite des Rucksacks …»

      «Es geht nicht!», schrie Selma genervt. Sie bekam immer mehr Mühe mit Atmen.

      Nun hörte sie eine Zeit lang nur den Gletscherbach. Selma vermutete, dass Ole und Lasse einen Plan ausheckten, wie sie sie aus diesem kalten Gefängnis befreien konnten.

      «Hallo!», rief Selma nach einer Weile.

      «Du musst an den Rucksack!»

      Selma bewegte sich ganz leicht. Sie rutschte nicht. Mit der rechten Hand konnte sie nach dem Rucksack greifen. «Okay. Ich komme ran. Aber ich kann ihn nicht ausziehen.»

      «Gut, Selma, gut! Erreichst du das linke Aussenfach?»

      Selma griff wieder über die Schulter nach hinten. Sie spürte das Aussenfach aber nicht. Sie hyperventilierte, zog ihre Handschuhe aus und hängte sie mit den kleinen Ösen an ihre Jacke. Sie hielt den Atem an, streckte den rechten Arm wieder zum Rucksack und drückte ihn gleichzeitig mit der linken Hand weiter nach hinten. Zum Glück wurde der Rucksack durch Selmas Position etwas nach oben gegen ihren Nacken gedrückt. Denn tatsächlich spürte sie jetzt den Reissverschluss der Aussentasche. Selma atmete durch, so gut es ging. «Okay. Ich bin dran.»

      «Super! Öffne den Reissverschluss.»

      Selma zerrte daran und schaffte es tatsächlich, den Verschluss einige Zentimeter aufzuziehen. «Okay», bestätigte sie.

      «Gut. Jetzt greif hinein und nimm eine Eisschraube heraus!»

      Selma drückte mit voller Kraft mit der linken Hand gegen den Ellbogen des rechten Arms und drückte ihn damit in die Tasche hinein. Nun konnte sie das Seil greifen, das ihr Lasse eingepackt hatte. Sie nahm es vorsichtig heraus. Bei allen Bewegungen achtete sie darauf, sich langsam und nicht ruckartig zu bewegen. Trotzdem kratzte und kroste es an den Eiswänden bedrohlich, der verkantete Ski rutschte einige Millimeter ab. Selma hielt erneut den Atem an. Sie rutschte nicht weiter. Sie nahm das Seil zwischen ihre Zähne und griff nun noch tiefer in die Aussentasche. Tatsächlich spürte sie etwas Metallisches. Das musste diese Schraube sein. Sie zog sie heraus.

      «Hast du sie?», schrie Ole von oben in die Gletscherspalte.

      Selma konnte nicht antworten, weil sie das Seil im Mund hatte. Aber sie konnte sich vorstellen, was nun zu tun war. Mit der scharf geschliffenen Spitze der Schraube kratzte sie am Eis und bohrte ein kleines Loch. Dann setzte sie die Schraube an und begann vorsichtig zu drehen. Die Schraube fräste sich tatsächlich schnell ins Eis. Nun fasste Selma den hinteren Teil der Schraube, an dem ein Karabiner befestigt war, der sich wie eine Kurbel benutzen liess. Sie drehte, und im Nu verschwand die Schraube im Gletschereis.

      Das würde nun ihr Anker sein.

      Selma nahm das Seil aus dem Mund, versuchte es sich um den Bauch zu schlagen, was ihr aber nicht gelang. Also fädelte sie das Seil durch die Schulterschlaufe ihres Rucksacks und den Karabiner der Eisschraube. Sie zog alles fest und atmete durch. Ein leichter Schmerz durchzuckte sie. Aber sie war gesichert.

      «Selma?», schrie Ole. «Bist du da?»

      «Ja. Ich bin da. Und gesichert!»

      «Du hast dich mit der Eisschraube gesichert?»

      «Ja!»

      «Fantastisch! Super!»

      Selma hörte, wie die Leute auf dem Gletscher klatschten. Dann hörte sie Stimmen, verstand aber kein Wort. Irgendetwas ging da oben vor. Doch im Moment kümmerte das Selma wenig. Sie versuchte, ruhig zu atmen und sich etwas zu erholen. Sie war gesichert, das war erstmal die Hauptsache. Wie sie je wieder aus dieser Spalte hinauskommen sollte, war ihr zwar ein Rätsel, doch Ole und Lasse würden sich schon etwas einfallen lassen. Ansonsten würden ja bald die Bergretter da sein.

      Dann kroste es wieder. Der Ski rutschte. Selma wurde in eine äusserst schmerzhafte Position bugsiert. Ihr Bein mit dem Ski war völlig verdreht. Sie versuchte, ihre Lage zu ändern, doch dabei geriet auch ihr Oberkörper ins Rutschen. Plötzlich klappte die Skibindung auf. Der Ski verschwand in der Tiefe und Selma rutschte: «Hilfe!»

      Das Seil fing sie auf. Tatsächlich hing sie nun einzig und allein an dieser Eisschraube.

      «Selma?»

      «Ich bin abgerutscht.