Philipp Probst

Wölfe


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leichtes Kopfweh. Aber wenigstens drehte sich nichts mehr. Ans Karussell konnte sie sich noch erinnern. Was davor passiert war, wusste sie nicht mehr.

      Das änderte sich, als sie das Wohnzimmer betrat. Auf den Beistelltischen standen mehrere leere Heringgläser, Schnapsgläser und je eine leere Aquavit- und Absolut-Flasche. Ihre Pumps lagen auf dem Boden. Und auf dem abgewetzten Biedermeiersofa lag Jonas Haberer. Er war komplett angezogen. Auch seine roten Boots hatte er noch an.

      «Oh, Gott», murmelte Selma. «Ich brauche einen Kaffee.»

      Selma ging in die Küche und setzte Filterkaffee auf. Sie schaute zu, wie die braune Brühe in die Kanne tröpfelte. Sie starrte mit leerem Blick in die Kanne. Plötzlich hörte sie das laute Klack – klack – klack, aber im Gegensatz zu sonst nur sehr langsam.

      «Gibt es Kaffee?», fragte Jonas Haberer und blinzelte. Seine normalerweise fett eingegelten Haare fielen in sein faltiges Gesicht.

      «Gleich», antwortete Selma. «Sag mal, warum konntest du gestern an der Vernissage so lautlos übers Parkett …» Sie suchte nach dem richtigen Wort.

      «Schweben?», half Haberer nach.

      «Na ja, schweben, ich weiss nicht, treten. Bist du ein Leisetreter geworden?»

      Haberer lachte kurz, hustete, verzog das Gesicht und griff sich an den Kopf.

      «Brummschädel?»

      «Ach was!» Er fuhr sich durch die Haare, strich die Strähnen nach hinten, spuckte in die Hände und pappte damit seine Haare an den Kopf. «So, ich bin wiederhergestellt», sagte Haberer und räusperte sich laut. «Zu deiner Frage: Nein, ein Leisetreter werde ich nie sein. Ich habe eben Manieren.»

      «Oh», machte Selma nur und goss den Filterkaffee in eine Tasse. «Milch?»

      «Schwarz.»

      Selma reichte die Tasse Haberer. Dieser nahm einen grossen Schluck, würgte und verdrehte die Augen: «Was ist das?»

      «Kaffee.»

      «Jesusmariasanktjosef. Das kann man ja nicht saufen. Liegt es am Rheinwasser, oder ist euch der Kaffee ausgegangen?»

      Selma machte Jonas Haberer einen Espresso.

      «Hattest du schon einmal Probleme mit diesem Georg?», fragte Haberer und setzte sich an Charlottes Küchentisch.

      «Nein, bisher nicht, aber ich sehe ihn auch nicht oft.»

      «Wenn er dich das nächste Mal belästigt, rufe ich den Kommissär Zufall an.»

      «Bitte?»

      «Wie ich gestern schon gesagt habe: Ich kenne jemanden auf dem Kommissariat. Olivier Kaltbrunner.»

      «Und wieso kennst du ihn?»

      «Hatte einmal eine geile Story in Basel. Da warst du auf irgendeiner deiner sinnlosen Reportagen im Ausland, um die Welt zu verbessern. Währenddessen hockten dieser Oli und ich in den Rattenlöchern von Basel und haben diese Stadt und die Welt nicht nur verbessert, nein, wir haben sie gerettet.»

      «Aha», sagte Selma und glaubte ihm kein Wort.

      «Ich kann mich daran erinnern», sagte plötzlich Charlotte, die perfekt frisiert und gestylt im Türrahmen stand. «Es ging um einen Angriff von Terroristen. Und um Giftgas.»

      «Echt jetzt?», fragte Selma erstaunt.

      Haberer nickte stolz.

      «Es war fürchterlich», meinte Charlotte, hüstelte kurz und fuhr fort: «Aber Jonas hat als Journalist auch schon ein monströses Armeeprojekt verhindert und uns alle vor einem schrecklichen Virus …»

      «Zu viel der Ehre, liebe Charlotte», unterbrach Haberer und stand auf, «ich habe nur getan, was ein Mann tun muss. Aber ja, du hast recht», er lächelte Charlotte an, «es war verdammt viel. Dank mir sind wir alle gesund und frei!»

      «Natürlich», sagte Charlotte schmunzelnd. «Ich würde jetzt gerne Kaffee mit euch trinken.»

      Haberer bot Charlotte seinen Stuhl an und setzte sich neben Selma.

      «Mama, warum bist du so fit? Du hast doch ordentlich getrunken?»

      «Ja, Wasser.»

      «Deine Mutter ist eine Dame», sagte Haberer. «Sie hat ihre Tricks.»

      «Gut, dass ihr mich daran erinnert.» Sie ging in die Stube und kam mit einer Petflasche zurück, die mit einer gelblichen Flüssigkeit gefüllt war. Diese leerte sie nun im Schüttstein aus.

      «Was war das?», fragte Selma erstaunt.

      «Eine Mischung aus Sekt, Aquavit und Wodka.»

      «Du willst aber nicht sagen, dass du den Alkohol nicht geschluckt, sondern in diese Flasche gespu…»

      «Selmeli!», unterbrach Charlotte.

      Selma und Jonas schauten sich an und mussten lachen.

      Plötzlich stand Jonas auf und sagte: «Leute, ich muss! Selma, morgen um 10 Uhr in Engelberg, klar?»

      «Bitte?»

      «Dein Auftrag.»

      «Wie, mein Auftrag? Du hast nichts gesagt.»

      Jonas schaute Charlotte an, die aber nur mit den Schultern zuckte. «Okay, dann habe ich es vergessen. 10 Uhr Engelberg. Du musst über verrückte Skifahrer eine Reportage machen. Die Sache eilt.»

      «Jonas, ich bin keine Sportreporterin.»

      «Papperlapapp. Geht mehr um Porträts. Ich ruf dich an!» Er drehte sich zu Charlotte und warf ihr einen Kuss zu. «Es war mir eine Ehre, Madame Charlotte Svea Legrand-Hedlund.» Und zu Selma sagte er kurz: «Selmeli, wir hören uns.»

      Klack – klack – klack. Die Tür fiel ins Schloss. Jonas Haberer, der Kotzbrocken, war weg.

      «Was für ein Mann», hauchte Charlotte und nippte an ihrem Kaffee.

      Selma packte ihre Pumps und ging in ihre Wohnung. Sie liess Wasser in die Badewanne einlaufen, zog sich aus und legte sich hinein. Sie lag so lange in der Wanne, bis sie fror. Dann liess sie das Wasser ab und duschte. Als sie sich im Spiegel anschauen wollte, war dieser beschlagen. Sie föhnte ihn. Dann betrachtete sie sich und war überrascht: So übel, wie sie sich fühlte, sah sie nicht aus.

      Sie hüllte sich in ihren Bademantel, packte ihre Haare in einen Frotteeturban, setzte Kaffee auf und checkte ihr Handy. Sie hatte viele Nachrichten über WhatsApp erhalten. Es waren Dankesschreiben für die Vernissage, meistens mit etwas übertriebenen Huldigungen zu ihrem Talent als Malerin.

      Dann entdeckte sie die Nachrichten von Georg. In der ersten entschuldigte er sich für sein Verhalten. Er habe etwas zu viel getrunken. In der zweiten bedankte er sich und schrieb, welch faszinierende Frau Selma sei. Die dritte Nachricht lautete: «Uns verbindet etwas ganz Grosses. Wir wissen beide, dass wir zusammengehören.»

      Selma rannte ins Bad und übergab sich.

       4

      Er hiess Lasse Svensson, war Selmas Kontaktperson in Engelberg und sah gut aus. Das registrierte das fotografische Auge der Reporterin sofort. Lasse hatte halblange, leicht gewellte, blonde Haare, blaue Augen, gebräunter Teint. Er hatte einen kräftigen Händedruck und ebenso kräftige Arme, auf denen sich die Adern deutlich abzeichneten. Dass Lasse nicht mehr ganz jung war, erkannte Selma daran, dass sich der Haaransatz ziemlich weit oben befand und sich auf der Schädeldecke die Haarreihen bereits gelichtet hatten. Auch die Falten am Hals und im Gesicht wurden nur noch rudimentär durch den blonden Dreitagebart verdeckt. All das schmälerte Lasses Attraktivität keineswegs. Nicht nur Selmas fotografisches Auge war von der Erscheinung angetan.

      Lasse Svensson war Schwede und so etwas wie der Manager und Vermarkter der Engelberger Freerider, einer Gruppe tollkühner, junger Skifahrerinnen und Skifahrer aus der Schweiz, Schweden, Kanada, USA und