Philipp Probst

Wölfe


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seid doof», kommentierte Selma und warf sich nun gekonnt in Pose. Süsses Lächeln inklusive Grübchen, verführerischer Blick, ein Auge durch eine Haarsträhne verdeckt.

      «Danke», sagte der Journalist und bat Selma, nun einige Fragen zu beantworten. Selma merkte schnell, dass der Typ nicht bloss ein Lokaljournalist war, der von seiner Chefin oder seinem Chef zu einer langweiligen Vernissage verknurrt worden war. Der Mann schien etwas von Kunst zu verstehen. Zumindest machte er diesen Eindruck, in dem er Selmas Bilder mit anderen Künstlern verglich und fragte, ob sie sich von diesen Malern habe beeinflussen lassen.

      «Nein. Ich habe schon immer gemalt, habe meinen eigenen Stil verfolgt. Dann studierte ich Fotografie, was mich ebenfalls geprägt hat.»

      «Aber sie wuchsen in einem künstlerischen Umfeld auf?»

      «Wie meinen Sie das?»

      «Ihre Mutter ist eine bekannte Kunsthistorikerin.»

      «Sie kennen meine Mama?»

      «Flüchtig. Ich arbeitete während des Studiums im Kunstmuseum.»

      «Aha», machte Selma, schaute um sich und suchte ihre Mutter. Diese schien aber in ein Gespräch vertieft zu sein. «Meine Mutter versteht tatsächlich etwas von Kunst. Was man von mir nicht unbedingt behaupten kann.»

      «Sie sind schliesslich keine Kunstkritikerin, Sie sind eine wundervolle Künstlerin.»

      Selma fühlte sich geschmeichelt, zweifelte aber daran, dass das Kompliment echt war. «Na ja … ich male einfach. Und wie Sie gehört haben, wollte meine Mutter unbedingt diese Ausstellung.»

      «Zum Glück. Ich nehme an, das künstlerische Talent haben Sie von Ihrer Mutter. Malt sie auch?»

      Selma spürte einen dumpfen Schlag in der Magengegend, ihr wurde schwindelig. Sie verlor beinahe das Gleichgewicht und konnte sich nur mit Mühe auf ihren hohen Absätzen halten.

      «Frau Legrand-Hedlund, alles in Ordnung?»

      «Ja … ich brauche … einen Schluck Wasser …»

      Der Journalist ging schnell zu Lea und bat um ein Glas Wasser. Als er zurückkam, war Selma verschwunden.

      Kurz darauf wollten sich die ersten Gäste bei der Künstlerin verabschieden. Lea, Marcel und Elin begannen, Selma zu suchen. Aber Selma war weg.

       2

      Sie war weder draussen vor dem Haus «Zem Syydebändel» noch im kleinen Park beim Totentanz auf der anderen Strassenseite. Sie war auch nicht in ihrer Wohnung im dritten Stock, nicht in ihrem Atelier und auch nicht auf der kleinen Dachterrasse.

      «Lasst mich kurz allein», bat Elin im Treppenhaus Selmas engste Freunde Lea und Marcel. «Ich habe so eine Ahnung.»

      «Okay, dann räumen wir unten mal langsam auf», meinte Lea.

      Elin wartete, bis die beiden verschwunden waren, ging dann vom dritten in den zweiten Stock und klopfte vorsichtig an die Wohnungstüre: «Selma?»

      Sie bekam keine Antwort.

      Elin war sich sicher, dass Selma drinnen war. Jahrelang war diese Wohnung im zweiten Stock für Selma und Elin tabu gewesen. Jahrelang hatte nur ihre Mutter Charlotte, die im ersten Stock des Hauses wohnte, diese Räume betreten. Den Schlüssel dazu hatte sie im Wandtresor hinter dem Gemälde des abgesetzten schwedischen Königs Gustav IV Adolf aufbewahrt. Selma und Elin hatten immer geglaubt, dass ihre Mutter diese Wohnung nur deshalb nicht freigab, weil hier sowohl Charlottes Ehemann Dominic-Michel Legrand wie auch ihr Vater Hjalmar Hedlund verstorben waren. Aber dann hatte Elin das Amulett mit dem Foto eines fremden Mannes in Charlottes Schlafzimmer gefunden und begann, Fragen zu stellen. Charlotte geriet unter Druck. Und hatte kurz darauf Selma in diese Wohnung im zweiten Stock geführt und ihr die Gemälde des schwedischen Malers Arvid Bengt Ivarsson gezeigt. Arvid Bengt Ivarsson war der Mann, dessen Foto in Charlottes Amulett war. Das Geheimnis war gelüftet. Und das Lügengebilde Charlotte Legrand-Hedlunds brach zusammen.

      Elin klopfte erneut. «Selma, ich weiss, dass du da drin bist.»

      Keine Antwort.

      «Schwesterherz, ich komme jetzt herein.»

      Elin öffnete langsam die Wohnungstür und sah im fahlen Licht der Strassenlaternen, das durchs Fenster schien, Selma auf einem der mit Leintüchern abgedeckten Sessel sitzen. Sie hatte die Pumps ausgezogen und hielt ihre Beine mit den Händen fest.

      Selma funkelte Elin giftig an: «Nenn mich nicht Schwesterherz!»

      Elin ging zu ihr und umarmte sie. «Wie soll ich dich denn sonst nennen? Halbschwesterherz? So ein Blödsinn. Du bist und bleibst meine Schwester!»

      «Ich bin keine Legrand», fauchte Selma.

      «Natürlich bist du das. Unsere Mutter hatte eine Affäre mit diesem Arvid Bengt Ivarsson, na und? Da waren sie und Papa noch kein richtiges Paar. Sie hatten sich gekannt, ja, vielleicht auch geliebt – ach, das spielt doch jetzt keine Rolle mehr. Wichtig ist, dass unsere Mutter ihrem zukünftigen Ehemann alles gebeichtet hat. Und vor allem, dass er sie trotzdem und obwohl sie schwanger war, geheiratet und dich wie seine leibliche Tochter angenommen hat.»

      «Angenommen?» Selma stand auf, ging ans Fenster und starrte zum Totentanz hinaus. Die farbigen Herbstblätter an den Bäumen im kleinen Stadtpark tanzten im leichten Wind. Blies der Wind kräftiger, lösten sich viele Blätter von den Ästen und schwebten zu Boden. «Angenommen?», wiederholte Selma giftig. «Was für einen Mist redest du?» Selma drehte sich um, nahm die alten Familienfotos der Legrands und der Hedlunds vom Regal und streckte sie Elin entgegen. «Alles Lug und Trug, Elin», schimpfte Selma und warf die Fotos auf den Boden. Die Glasscheiben zersplitterten. «Dem feinen Söhnchen aus der noblen Bankiersfamilie Legrand war wohl nichts anderes übriggeblieben. Das war doch alles ein abgekartetes Spiel: Monsieur Dominic-Michel Legrand aus der Basler Hautevolee, dem Daig, heiratete die Tochter des angesehenen schwedischen Professors Hjalmar Hedlund! Ich bitte dich, Elin. Da wurde ein Bastard wie ich nicht geduldet.»

      «Selma!», rief Elin erschrocken. «Du bist kein …»

      «Natürlich bin ich das!»

      «Vater hat dich geliebt.»

      «Er ist nicht mein Vater. Er ist nicht mein Vater.» Selma liess sich auf die Knie fallen, vergrub ihren Kopf in den Händen und schluchzte.

      «Selma, du darfst das nicht so sehen. Wirklich nicht. Mein Vater ist auch dein Vater. Du hast jetzt eben zwei Väter. Vielleicht suchst du ihn …»

      «Ich werde ihn nicht suchen, verdammt nochmal!», wetterte Selma zwischen ihren Heulkrämpfen. «Der Idiot interessiert mich nicht. Und das künstlerische Talent habe ich sicher nicht von ihm! Warum hat Mutter überhaupt all diese Bilder? Ach, was soll’s! Es ist mir völlig egal!»

      Elin versuchte, Selma zu trösten: «Lass es raus, lass es endlich raus!» Doch Selma weinte und weinte. Als sie sich etwas beruhigt hatte, sagte Elin leise: «Wenigstens redest du wieder darüber. Seit dich Mama in diese Wohnung geführt hat, habt ihr ein Mal zusammen geredet. Und ein Mal noch mit mir. Dann wolltest du nicht mehr darüber sprechen. Dabei beschäftigt mich das alles sehr. Ja, auch ich leide darunter. Weil ich dich liebe. Und weil ich meine Familie liebe. Aber du wolltest nie erfahren, was …» Elin brachte den Satz nicht zu Ende. Sie war aufgewühlt, wollte nichts Falsches sagen, vor allem keine Vorwürfe machen.

      Selma blickte auf, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sagte resolut: «Ich will auch jetzt nicht darüber sprechen. Ich will feiern. Gib mir fünf Minuten. Dann komm ich hinunter, und wir ziehen um die Häuser. Wer noch da ist, soll mitkommen!»

      Selma stieg in ihre Wohnung in den dritten Stock, um sich frisch zu machen und um ihren Mantel zu holen. Als sie in den Coiffeursalon zurückkam, waren nur noch Lea, deren Freund Georg, Elin, Marcel, ihre Mutter und Jonas Haberer anwesend.

      «Selmeli, ist alles in Ordnung mit dir?», wollte Charlotte wissen.

      «Alles