Philipp Probst

Wölfe


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Ruhe.

      Sollte sie sich verstecken? Wo? Im Kinderzimmer? Unter einem Bett? Nein, er würde sie finden! Was würde er mit ihr machen? Sie töten? Sie quälen?

      Marlène schaute sich um. Gab es einen Gegenstand, den sie als Waffe einsetzen und ihm auf den Kopf schlagen könnte? Das Gewehr! Der alte Karabiner ihres Grossvaters! Wo aber war die verdammte Munition?

      Sie hatte keine Zeit, danach zu suchen. Sie eilte ins Schlafzimmer, nahm das Gewehr von der Wand und ging zur Türe. Sie schloss sie auf, gab ihr einen Tritt und zielte mit dem Karabiner in die Nacht hinaus. Sie hörte ein Rascheln. Sie nahm die Taschenlampe, trat hinaus in die Nacht. Sie leuchtete den Weg hinunter. Nichts. Die Weide. Nichts. Sie liess den Lichtkegel langsam entlang des Waldrands streifen.

      Dann sah sie es: Etwas reflektierte den Schein ihrer Taschenlampe. Ganz schwach. Augen? Reflektoren eines Kleidungsstücks? Sie schwenkte mit der Taschenlampe zurück. Sie zitterte.

      Es war nichts mehr zu sehen.

      Aber nun wusste sie: Sie war nicht allein.

       1

      Leas Coiffeursalon war voll mit elegant gekleideten Leuten. Die meisten Damen trugen Röcke oder stilvolle Hosenkleider, die Herren schwarze oder graue Anzüge. Nur einer fiel ein bisschen aus dem Rahmen: Jonas Haberer. Auch er trug zwar einen dunklen Anzug, dazu aber rote Cowboyboots und einen schwarzen Westernhut, verziert mit einem roten Seidenband. Er betrachtete ein Bild nach dem anderen. Lange und sehr genau. Wenn er sich bewegte, dann nur langsam und leise. Jonas Haberer trat nicht mit den Absätzen aufs Parkett und erzeugte für einmal kein lautes Klack–klack–klack, sondern er ging auf Zehenspitzen.

      Lea, Elin und Marcel servierten Sekt, vegetarische Häppchen und gegrilltes Gemüse. Die Gäste standen in Grüppchen, diskutierten über die Bilder, nippten an ihren Gläsern und versuchten, die kleinen Sandwiches und Blätterteigtörtchen möglichst anständig und ohne zu kleckern in ihre Münder zu schieben.

      Charlotte trug ein enges, kurzes, schwarzes Etuikleid, kniehohe Stiefel mit hohen Absätzen und sass auf einem Frisierstuhl. Sie beobachtete die Szenerie mit einem Lächeln.

      Und dann war es so weit: Selma betrat den zur Galerie umfunktionierten Coiffeursalon. Charlotte stand auf, fasste ein Sektglas und schlug mit einem Löffel sachte dagegen. Laut sagte sie: «Eh, voilà, hier ist die Künstlerin. Meine Tochter Selma Legrand-Hedlund!»

      Die Gäste drehten sich zu Selma um und applaudierten. Selma winkte kurz, fuhr sich mit der rechten Hand durch die Haare, lächelte, trat von einem Bein aufs andere und spielte an ihren Silberringen herum.

      «Messieurs dames», sagte Charlotte. «Oder wie wir Schweden sagen: Hei!» Die Leute lachten kurz. «Es ist mir eine Ehre, Sie zu dieser Vernissage begrüssen zu dürfen. Es ist die allererste Vernissage dieser wundervollen Künstlerin. Und ich sage Ihnen, es war ein langer Weg bis zu dieser Ausstellung. Kunst soll und darf sich nicht verstecken, aber bringen Sie dies einer wahren Künstlerin bei!» Ein kurzes Raunen ging durch die Reihen. «Es brauchte nicht nur die liebevollen Worte von Selmas Schwester Elin, nicht nur viele Diskussionen und noch mehr Frisuren ihrer Freundin Lea und nicht nur die psychologische Beratung ihres Freundes Marcel. Nein, es brauchte ein – wie soll ich sagen – deutliches Wort ihres journalistischen Ziehvaters, der …»

      «Es brauchte einen Tritt in den Arsch!», warf Jonas Haberer in breitestem Berner Dialekt ein. Die Leute lachten.

      «Oder so», meinte Charlotte und lächelte angestrengt. «Und schliesslich brauchte es noch die Tatkraft ihrer Mama, die Sache zu organisieren und die Künstlerin vor ein fait accompli, vor vollendete Tatsachen, zu stellen.»

      Die Leute lachten erneut und klatschten.

      «Meine Damen und Herren», fuhr Charlotte fort. «Ich habe mich entschieden, nur einen kleinen Teil von Selma Legrand-Hedlunds Schaffen auszustellen. Es handelt sich um Bilder, die Selma während weniger Wochen im vergangenen Sommer gemalt hat. Die Künstlerin ist dabei zu ihren Wurzeln zurückgekehrt. Ihre früheren Bilder zeigten realistisch dargestellte Landschaften, später kamen abstrakte Landschaften hinzu, gefolgt von einer sehr düsteren, schwarzen Phase. Doch die Farben kehrten zurück. Der Grund dafür war ein prägendes Ereignis auf einer Alp im märchenhaften Saanenland. Und hier sehen Sie das Resultat: mystische, fantasievolle Bilder, die eine ungeheure Lebenskraft ausdrücken.»

      Charlotte legte eine kurze Pause ein und trank einen Schluck Wasser aus einem Glas, das ihr Lea reichte. «Die Werke zeugen von einem grossen handwerklichen Können und einem noch grösseren Talent. Aber lassen wir das hochgestochene Geschwätz: Überzeugen Sie sich selbst. Vielen Dank.»

      Nach einem weiteren Applaus rief Selma: «Danke, Mama! Ihr wisst ja, einer Kunsthistorikerin, die einen grossen Teil ihres Lebens in verstaubten Archiven verbracht hat, darf man nicht alles glauben.» Sie blickte in die Runde, lächelte und sagte: «Danke, dass Ihr alle gekommen seid. Ich freue mich sehr über diese Vernissage!»

      Die meisten Leute kannte sie. Es waren Freunde und Bekannte, viele Frauen ihrer Fasnachtsclique waren da, auch einige Journalisten und Fotografen, mit denen sie in der Vergangenheit zusammengearbeitet hatte.

      Selma bewegte sich in ihrem kurzen, blauen Designerkleid und den hohen schwarzen Pumps elegant und sicher. Dass sie genau dieses Kleid und diese Schuhe an ihrer Vernissage tragen würde, wie es ihre Mutter gesagt hatte, als sie Selma die edlen Stücke schenkte, war also wahr geworden. Und ja, es stimmte: Sie hatte sich lange gegen diese Ausstellung gesträubt und deshalb den «Tritt» ihres ehemaligen Chefs und jetzigen Auftraggebers für ihre Reportagen gebraucht. Selma ging zu ihm: «Danke, Jonas, du elender Kotzbrocken!»

      «Ach, Selmeli», meinte Jonas Haberer. «Ich weiss doch, was für dich gut ist.» Er deutete auf seinen Hut. «Hast du schon bemerkt, dass ich einen roten Seidenbändel an meinem Hut trage? Extra für meinen Besuch bei dir im Haus ‹Zem Syydebändel›.»

      «Du bist süss», sagte Selma entzückt.

      «Oh», machte Haberer, «du bringst mich in Verlegenheit, Selmeli.»

      «Nenn mich nicht Selmeli, Habilein!»

      Die beiden lachten. Dann wurde Selma von einem ihr unbekannten Mann, der etwa gleich alt war, angestupst und gefragt, ob er ihr einige Fragen stellen und ein Foto machen dürfe. Er stellte sich als Kulturjournalist vor und sagte, er würde sehr gerne einen kurzen Bericht über sie schreiben. Selma wollte gerade verneinen, als Marcel angerauscht kam.

      «Wunderbar», mischte sich Marcel ein. «Das machen wir sehr gerne!»

      «Sind Sie Frau Legrand-Hedlunds Kunstagent?»

      «Nein, nein, ich bin bloss ihr bester Freund. Und wie Sie schon in der Ansprache von Selmas Mutter erfahren haben: Die Künstlerin ziert sich ein bisschen.»

      Selma gab Marcel einen Stoss in die Rippen.

      «Machen wir doch zuerst das Foto», schlug Marcel vor.

      Der Journalist dirigierte Selma vor das grösste Alpgemälde und bat um ein Lächeln.

      Doch Selma lächelte nicht.

      «Bitte, Selma», forderte Marcel sie auf.

      «Nein, ich will nicht lächeln, das weisst du.»

      Marcel wandte sich dem Journalisten zu und flüsterte ihm ins Ohr: «Sie bekommt so ein kleines Grübchen in der rechten Wange, wenn sie lächelt. Alle finden das süss. Nur sie nicht.»

      Der Journalist drückte einige Male auf den Auslöser. Selma blickte steif in die Kamera.

      «Meine Güte, Selma!», schimpfte Marcel. «Du bist selbst Fotografin. Also solltest du wissen, worauf es bei einem guten Bild ankommt!»

      «Ist ja gut», murrte Selma, fuhr mit ihren Händen durch ihre langen Haare, schüttelte sie und rief dann genervt nach Lea. Diese eilte mit einem Kamm herbei und frisierte Selma.

      «Du schaffst das, Selma»,