F. John-Ferrer

Wenn alles in Scherben fällt


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kommt zuerst herein. Hinter ihm steht Leutnant Hartwig, dahinter die sechs Henkersknechte mit den Stahlhelmen.

      »Mein Sohn …«, murmelt der Pfarrer.

      Klenke winkt ab. Er hat Tausende verrecken sehen. Er hat ihre Hilfeschreie gehört, ihre verrenkten Arme, ihre kralligen Finger gesehen. Man stirbt nur einmal.

      »Geht’s los, endlich?«, fragt er.

      Er wird nicht plärren, denkt Leutnant Hartwig. Endlich mal einer, der nicht plärrt und lauter unsinniges Zeug lallt.

      Tram, tram, tram, tram.

      Die schwarzhaarige Stabshelferin Uschi Brandt aus Stuttgart steht im Waschraum und zieht die Lippen sorgfältig nach. Draußen auf der Lagerstraße ertönen Marschtritte. Uschi stößt das schmale Toilettenfenster auf und schaut hinaus. Leutnant Hartwig marschiert vorbei, zusammen mit seinen sechs Schergen, in der Mitte ein Mensch im Drillichanzug.

      Der Erschießungsplatz liegt hinter der Baracke 6, dahinter der Wall, über dem der schwäbische Forst mit dunklen Wipfeln trauert. Der Pfahl ist neu.

      Klenkes Lächeln ist leer, als man ihn festbindet.

      »Nicht die Augen zu«, sagt er mit brüchiger Stimme zu Hartwig. »Ich will euch sehen, wenn ihr schießt. Und einmal wirst du dir selbst die Kugel durch den Kopf jagen, Leutnant – einmal bist auch du dran.«

      Hartwig wendet sich ab, zieht den Degen, hebt ihn. Dann kracht die Salve.

      Strafsoldat Herbert Klenke hängt schlaff in den Stricken, die ihn am Pfahl festhalten.

      Über dem schwäbischen Forst kreist ein Schwarm aufgescheuchter Krähen und setzt sich irgendwo nieder. Jedesmal, wenn auf dem Schießplatz eine Salve kracht, schrecken die schwarzen Vögel auf. Sie werden sich ebenso wenig an das Krachen gewöhnen, wie sich Leutnant Hartwig daran gewöhnen wird, alle drei oder vier Tage einen Delinquenten zum Tode zu befördern.

      Ohne Ende scheint die Fahrt. Zwei Tage schon poltert der Transportzug ins Ungewisse. Im grauen Dunkel der plombierten Viehwaggons kauern die Elendsgestalten auf dem blanken Boden. Je vierzig in einem Waggon. Die Luft ist verpestet. Die Gucklöcher sind mit Stacheldraht verspannt. Ein rollendes Gefängnis.

      Taumelnd steht eine hohlwangige, zebragestreifte Gestalt an der Schiebetür und verrichtet ihre Notdurft. In einem Schweinestall kann es nicht schlimmer aussehen und grässlicher stinken.

      In München-Stadelheim ist der letzte Schub Zuchthäusler übernommen worden. Ein paar Brote wurden hineingeworfen. Tür zu. Weiter!

      Der Sammeltransport entehrter, geschundener, geprügelter, halb verhungerter Menschen rollt die Strecke Tuttlingen-Sigmaringen entlang. Der Zug pfeift. Es klingt wie der Aufschrei der Verzweiflung.

      Nicht weniger als dreihundert Jahre Zuchthaus sind in diesen Viehwaggons zusammengepfercht. Am Schluss rollt der Personenwagen mit den Bewachern. Sie dreschen einen Skat, lachen, erzählen Witze, während ein paar Wagen weiter das Elend seufzt und stöhnt.

      »Wer hier jammert, hat keine Überzeugung«, sagt der katholische Pfarrer, den man eines Sonntags aus der Sakristei geholt und ins KZ gesteckt hat.

      Der Student aus Berlin neben ihm erwacht aus seiner Meditation: »Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss.«

      Denn man muss seine Gedanken auf etwas konzentrieren, man muss sich an etwas klammem, um nicht loszubrüllen und mit den Fäusten gegen die wackelnden Wände dieses scheußlichen Gefängnisses zu hämmern.

      Die Eisenräder rollen. Die Kälte kriecht an den Beinen hoch. Sie umkrallt das Herz. Die Männer reden, um zu vergessen, sagen etwas, erzählen.

      Der Dirnenmörder Emil Schlegel hat wieder einmal seinen festen Zuhörerkreis. Er wühlt im Schmutz der Vergangenheit, malt in Worten ein buntes Bild seiner Schandtaten.

      »Also, wie jesacht: der Justav war ooch dabei. Zwee Straßen weita von un’sam Lokal hat die Ziska jewohnt. Die war frieha Puffmutta und hatte sich nu ’n janz hübschen Zaster uff de Seite jeräumt, von ihren Damens aus’m horizontalen Jewerbe, vasteht sich.«

      Lüstern funkeln die Augen der Zuhörer. Die Kälte ist vergessen, der Hunger, die Qual dieser nicht enden wollenden Fahrt.

      Im finsteren Winkel des Waggons, neben stinkenden Kothaufen, hockt Alfons Schnittgen, der Bibelforscher, und murmelt vor sich hin: »O mein Gott, du strafst uns, weil du uns liebst …«

      Brüllendes Gelächter bricht aus. Jemand hat einen Witz erzählt, über den man sich totlachen will.

      Helmut Kalmeder, Student der Rechtswissenschaft, wegen defätistischer Gesinnung von der Gestapo verhört, verprügelt und dann zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, weiß, dass es abwärtsgeht. Die große Katastrophe ist nicht mehr fern. Des Führers Tambour hat die Trommel auf den Zuchthaus- und KZ-Höfen gerührt. Die Entehrten, Entrechteten sind plötzlich gut genug, um unter der Fahne versammelt und in die klaffenden Lücken der Fronten geworfen zu werden.

      In Paragraph 1, I des Wehrgesetzes heißt es: »Wehrdienst ist Ehrendienst am deutschen Volke.« Und Paragraph 13, I a verkündet: »Wehrunwürdig und damit ausgeschlossen von der Erfüllung der Wehrpflicht ist, wer mit Zuchthaus bestraft ist.«

      Die Herren im OKW haben das berichtigt: Es gibt auch eine »bedingte« Wehrwürdigkeit. Der Krieg braucht Opfer. Die Front schreit nach Nachschub. Also auf mit den Zuchthaustoren! Raus mit den Verbrechern! Lasst auch sie bluten, lasst sie buddeln, schießen und verrecken! Wer sich bewährt, kann wieder wehrwürdig werden! Der Führer ist großmütig! Macht etwas gut, ihr Verbrecher, Verschwörer, Miesmacher, Hoch- und Landesverräter!

      Der Student Helmut Kalmeder kichert in seinen Mantelkragen hinein. »Pfäfflein, die Not ist da, der Teufel frisst Strafsoldaten!«

      125 Schicksale taumeln in der ratternden Dunkelheit durcheinander. Der Zug poltert durch das regengraue Donautal. Man schreibt irgendeinen Tag im November des Kriegsjahres 1943. Zäh hängt der Regennebel über den Höhen der Schwäbischen Alb. Der Wind ist kalt und treibt Sprühregen über das schmutzige Bahnhofsgelände der Station Tiergarten im Donautal.

      Neben der Verladerampe wartet seit über zwei Stunden ein Lkw-Konvoi. Zum Kuckuck, wann kommt denn endlich dieser Transportzug?

      Der Regen klatscht an die Wagenscheiben. Die Fahrer hocken missvergnügt hinter dem Steuer, schalten ab und zu den Scheibenwischer ein und blinzeln in den tristen Tag.

      Endlich! Der Zug kommt und bringt Nachschub für den Heuberg! Zischend und dampfend fährt die Lok ein, rangiert umständlich auf das Nebengleis und schiebt die plombierten Viehwaggons an die Rampe. Aus dem Personenwagen klettern Justizbeamte. Drei Bluthunde hecheln gierig ins Freie und zerren an den Leinen.

      »Heil Hitler, Kamerad«, grüßt ein Justizbeamter den Feldwebel.

      »Na, wie viele bringt ihr uns heute?«

      »125 sind es diesmal.«

      »Was Besonderes dabei?«

      »Allerhand!«

      Der Feldwebel grinst. »Ihr macht uns Spaß. Also, laden wir das Kroppzeug mal aus.«

      Aus dem Lkw steigen Soldaten vom Stammpersonal des Heubergs, mit Maschinenpistolen bewaffnet, gähnend, missgestimmt. Keiner freut sich über das, was jetzt mit barschen Rufen aus den Waggons getrieben wird.

      »Macht fix, ihr Schweine! Los, los! Dalli, dalli!«

      Kolbenstöße helfen nach, Flüche, hohles Geklapper von Holzpantinen.

      Der Gefreite Hirtz von der 3. Kompanie schüttelt den Kopf. »Junge, Junge, das is vielleicht ’n Misthaufen. Den sollte man doch gleich zusammenschießen und in die Kalkgrube schmeißen.«

      Es ist ein erschreckender Trauerzug, der zwischen Zug und Wagenkolonne so etwas Ähnliches wie Aufstellung nimmt, ein Mummenschanz von klapprigen Gestalten. Die Viehwagen speien Zuchthäusler und KZler aus: Gewohnheitsverbrecher in zebragestreifter Zuchthausuniform, KZ-Häftlinge in schlotternden Mänteln, Diebe, Mörder, Betrüger, verwahrloste