F. John-Ferrer

Wenn alles in Scherben fällt


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      Während Schimanek den Dienstplan für heute verliest, flüstert Kranz Kalmeder zu: »Das ist ein ganz übler Bursche. Ich hatte Angst um dich, mein Junge.«

      Kalmeder lächelt und drückt heimlich die Hand seines Freundes.

      Eine Viertelstunde später, nachdem Spieß Schimanek noch ein paar Verhaltensmaßregeln verkündet hat, trabt der Haufen Sträflinge unter der Führung Feldwebel Helms und eines Stammgefreiten zum Bekleidungsgebäude hinüber.

      »Ich mache mir Sorgen um Alfons«, raunt Kranz Kalmeder zu.

      Der Bibelforscher schweigt seit gestern, hat keinen Bissen zu sich genommen. Kranz hat gehört, wie Schnittgen in der Nacht gebetet hat. Jetzt lehnt der einsneunzig lange Zeuge Jehovas im nach Mottenkugeln riechenden Flur der Bekleidungskammer und wartet. Vorne werden bereits die ersten Klamotten aus der Tür geworfen. Feldwebel Helm überwacht die Übernahme der neuen Bekleidung – Bekleidung, die aus aufgebrauchten Drillichanzügen, geflickten Uniformen und ausgelatschtem Schuhwerk besteht.

      Alles passt. Die einzelnen Kleidungsstücke kommen aus der Kammer geflogen, werden aufgesammelt und kopfschüttelnd betrachtet.

      »Alfons«, sagt Kranz zu Schnittgen, »du musst jetzt ganz vernünftig sein, hörst du.«

      Das müde Gesicht des Bibelforschers hellt sich auf. »Hochwürden, Sie werden es doch am besten verstehen, wenn ich mich weigere, eine Uniform anzuziehen.«

      »Dann erschießen sie dich«, mahnt Kalmeder halblaut und schaut den Gang entlang, in dem es poltert und kracht, flucht und nach Mottenpulver stinkt.

      »Ich glaube an Gott«, sagt Schnittgen entschlossen.

      »Mensch, du spinnst«, mischt sich Schlegel ein. »Dein lieba Jott hilft dir ooch nich, wenn se dir an den Pfahl binden und det Hemdchen zerlöchern.«

      »Schlegel hat recht«, pflichtet Kalmeder notgedrungen bei. »Sei vernünftig, Alfons, und nimm die Klamotten, wie sie ranfliegen.«

      Der Bibelforscher schüttelt standhaft den Kopf.

      Kranz nimmt Kalmeder zur Seite und flüstert ihm zu: »Dieser Mann ist ein Held … ein wirklicher Held. Ich bewundere ihn.«

      »Wir können ihn abschreiben, Pfäfflein. Nimm ihn zur Seite und gib ihm den letzten Segen.«

      »Meinst du wirklich, dass sie ihn erschießen?« Das knochige Gesicht des Geistlichen zuckt.

      Kalmeder gibt keine Antwort.

      Ein paar Meter weiter vorne bemüht sich Xaver Bunser verzweifelt, zwei linke, knochenharte Kommisslatschen gegen ein passendes Paar einzutauschen.

      »I kann doch net in zwoa linke Schuach rumlaffa«, jammert der Brandstifter. »Hat wer zwoa rechte Schuach?«, fragt er herum.

      Und dann ist es so weit, dass Alfons Schnittgen vor dem Türloch steht und die ersten heranfliegenden Bekleidungsstücke auffangen soll. Er nimmt nur den Drillich. Die chemisch gereinigte, geflickte Uniformjacke fällt zu Boden, die Hose dazu, die Mütze, der Stahlhelm, das Koppel.

      Feldwebel Helm kneift die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.

      »Los, aufheben, du langes Reff!«, knurrt er Schnittgen wütend an.

      Schnittgen schüttelt den Kopf.

      Der Kammerbulle steckt den Kopf zur Tür heraus und fragt: »Was’n los da?«

      »Bitte nur den Drillich«, sagt Schnittgen.

      Es wird still im Korridor des Bekleidungsgebäudes, so still, dass man hört, wie Feldwebel Helm den Atem durch die Nase ausstößt. In einer langen Reihe an die rechte Wandseite des Korridors gedrückt, stehen die Sträflinge.

      »So«, hören sie den Kammerbullen höhnen, »nur ’n Drillich willst du haben? Die anderen Klamotten sind dir wohl nicht fein genug?«

      »Nimm die Sachen«, lässt sich der Feldwebel vernehmen; seine Stimme klingt wie das Knurren einer angriffslustigen Dogge.

      »Ich bin Christ«, sagt Schnittgen mutig. »Ich werde nie eine Soldatenuniform anziehen … und schon gar nicht ein Gewehr in die Hand nehmen. Das verbietet mir Gott, der in seinem fünften Gebot …«

      Weiter kommt Schnittigen nicht. Eine Faust packt ihn am Kragen und schleudert ihn auf die Kammertür zu. Das Viereck, durch das die Bekleidungsstücke geflogen kamen, verschließt sich von innen.

      »Knabe …«, grinst der Kammerbulle und zieht die Jacke aus, »Knäblein … Nu unterhalten wir uns mal ’n lüttgen über deine Idee.«

      Feldwebel Helm nimmt ein Koppel und schwingt es ein paarmal probeweise durch die Luft.

      Die draußen im Korridor ziehen die Köpfe ein, als in der Kammer ein dumpfer Aufschrei ertönt und dann von klatschenden Hieben abgelöst wird. Das Gesetz des Heubergs vollzieht sich auch an Alfons Schnittgen, brutal, eindeutig, unbarmherzig.

      Das dumpfe Brüllen des gepeinigten Menschen ist erloschen. Nur das klatschende Geräusch der Hiebe ist zu hören.

      »Sie schlagen ihn tot«, flüstert der Pfarrer Kranz und schlägt die Hände vors Gesicht.

      Kalmeder lehnt mit geschlossenen Augen an der Wand. Sein Asketengesicht ist starr. Nur um die nach unten gezogenen Mundwinkel spielt der Anflug eines seltsamen Lächelns.

      Zehn Minuten später taucht Alfons Schnittgen auf. Er taumelt aus der Tür, schlurft mit blutendem Mund, mit zerschlagenem Kopf an den Sträflingen vorbei, gefolgt von Feldwebel Helm.

      »Vorwärts, du Mistbiene, vorwärts!«

      Der Verschlag öffnet sich. Das feiste Gesicht des Kammerbullen schaut heraus.

      »Weitermachen, Herrschaften«, ruft er. »Weiter im Text. Der Nächste bitte … Hier ein Paar wunderschöne Stiefel … ein Drillich, eine Uniform, made in Germany.«

      Als Helmut Kalmeder seine Klamotten in Empfang nimmt, ist es ihm, als müsse er sich in die Ecke stellen und den Magen ausleeren.

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