Eberhard Bordscheck

Der Hölle entkommen


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rufen. Es war für jeden von ihnen wichtig, dass man ihn in einer Umgebung, die bereits damit begonnen hatte, seine Persönlichkeit zu zerstören, mit seinem Namen ansprach. Wer hier zum Namenlosen wurde und ohne vertraute Bindungen sein Überleben sichern musste, wurde zum Niemand. Aus seiner Gruppe waren nur noch fünf Männer übrig! Da war zunächst der Obergefreite Krumbiegl, ein Winzersohn vom Main. Er war ihm der Vertrauteste von allen. Dann waren da die beiden Gefreiten Randauer und Schulte. Randauer war von Beruf Spengler und stammte wie Krumbiegl aus Franken. Schulte war auf einem Bauernhof im Münsterland groß geworden. Wegen seiner gesunden Gesichtsfarbe und den ständig lachenden Augen hatten ihn alle Pausbäckchen genannt. Inzwischen war aus seinem freundlichen Gesicht ein fahlgrauer, ausgezehrter Fleck geworden. Außer ihnen hatten nur noch Vierkamp und Steinmetz die Kämpfe überlebt. Vierkamp war in Ostwestfalen zu Hause und im Zivilberuf Automechaniker. Auf dem Rückzug hatte er einen amerikanischen LKW nach weniger als einer Stunde wieder ans Laufen gebracht, dessen Ladung für vierzehn Tage die Versorgungsprobleme der Restkompanie gelöst hatte. Steinmetz war der jüngste unter ihnen, kam aus Hessen und war wie Georg vor der Einberufung Student gewesen. Er hatte gerade ein Architekturstudium begonnen, als er eingezogen wurde. Unterwegs hatte er überall historische Gebäude skizziert.

      Er sah die Männer der Reihe nach an und versuchte, die Namen, die ihm einfielen, an ihren Gesichtern festzumachen. Da war Klümper, der Älteste, den er gerade angesprochen hatte. Der Kleine rechts von ihm: Witkowski. Dann weiter: Leberecht, Hausberger … Penkalla … Schniedewind und … Fuhrmann! Die restlichen Namen musste er mit Hilfe seiner Gruppe schnellstens auch noch zusammenkriegen.

      »Was können wir hier schon groß machen, Georg? Wir können nur warten, was auf uns zukommt!« Vierkamps Bemerkung gab die Stimmung aller wieder, wie Georg nach einem Blick in die grauen, hoffnungslosen Gesichter feststellen konnte. Stumpfe, abwesende Augen blickten ihm entgegen, und bald, das spürte er, würde die Abwesenheit in Lethargie übergehen. In sein Gefühl der Hilflosigkeit mischte sich Wut. Wut auf alles, was sie hierher gebracht hatte. Das Geschrei und Wüten des »böhmischen Gefreiten«, wie der von seinem Vater verehrte alte Reichspräsident Hindenburg den heutigen Kriegsherren spöttisch genannt hatte, und seine unsinnigen Durchhaltebefehle, die Strapazen des verlustreichen Rückzugs, die schikanöse Verachtung durch die alliierten Soldaten nach der Gefangennahme.

      »Georg hat recht!«, meldete sich Krumbiegl zu Wort und riss Georg damit aus seinen Gedanken. Seine Worte mit heftigen Gesten unterstreichend fuhr er fort: »Wir können mehr tun, als nur auf das zu warten, was auf uns zukommt! Ich finde auch, dass wir als Einheit zusammenbleiben sollten und uns, wo es nur geht, gegenseitig helfen. Allein, nur auf uns gestellt, haben wir an diesem Scheißort bestimmt keine Chance! Wer hier allein für sich bleibt, hat es gegenüber anderen, die sich zusammentun, verdammt schwer. Denkt nur mal daran, wenn es wirklich bald was zu fressen gibt, wie ihr alleine zurechtkommt, ohne den Schutz der Kameraden!«

      Dafür bekam er einen dankbaren Blick von Georg, während die Männer sich unsicher anblickten, dann aber doch Zustimmung murmelten. Vielen wurde inmitten dieses eingezäunten leeren Nichts nur langsam bewusst, wie sich die Dinge hier weiter entwickeln könnten. Auch Georg selbst musste nun erst seine Gedanken ordnen. Er blickte vor sich auf den Boden und scharrte unschlüssig mit dem rechten Fuß eine kleine Mulde in eine unbewachsene Stelle, so als lägen die Antworten in der Erde und warteten nur darauf, ausgegraben zu werden.

      Als erste Maßnahme erklärte er ihnen endlich, sei eine Bestandsaufnahme der notwendigsten Dinge erforderlich. Dazu gehörten natürlich alle Gegenstände, die irgendwie Schutz vor der Witterung geben konnten. Aus den vorhandenen Zeltbahnen ließen sich drei Spitzzelte zusammenbauen. Sie kamen überein, dass diese bei Bedarf möglichen Kranken unter ihnen zur Verfügung gestellt werden sollten. Der Vorsatz war da, Georg bezweifelte aber insgeheim, dass die Zeltplatzinhaber ihre Plätze widerstandslos räumen würden. Die weitere Sichtung ergab, dass vier der Männer ohne Mäntel und acht ohne Decken waren. Das würden die ersten sein, durchfuhr es Georg. Die ersten, die anfangen würden, zu husten und zu spucken, und am Ende nur noch in sich zusammengekrochen vor sich hinstarren würden. Ohne die Möglichkeit, Feuer zu unterhalten, würde sich ihr Zustand verschlimmern. Bis … Doch diesen Gedanken schob er sofort wieder von sich fort.

      Die Bestandsaufnahme der Kochgeschirre und Wasserflaschen immerhin hatte ein weniger katastrophales Ergebnis.

      »Übrigens«, machte er ihnen klar, »sollten wir alles mitgehen lassen, was uns irgendwie in die Hände fällt, und wenn es nur ein Stück Bindfaden ist! Aber klaut nichts voneinander oder von anderen Kameraden, das gibt nur böses Blut! Und Streit untereinander ist das Letzte, was wir hier brauchen können!«

      »Wie geht es aber mit uns weiter?«, meldete sich einer der beiden Leichtverwundeten in der Gruppe zu Wort und hob seinen Arm mit dem Blut verkrusteten Verband in die Höhe. »Wenn ich nicht bald versorgt werde, krepiere ich daran noch! Ich glaube, ich habe schon so etwas wie Wundbrand. Meine Wunde fängt schon an zu stinken. Es tut höllisch weh!«

      Der Mann sah sich Hilfe suchend mit feuchten Augen um. Es war offensichtlich, dass er starke Schmerzen hatte.

      Georg wandte sich den Männern zu: »Hat jemand von euch noch etwas Verbandstoff oder etwas, was man als Verband verwenden könnte?«

      Einer der Männer fand in seinem Brotbeutel eine nicht mehr ganz saubere Mullbinde und gab sie dem Verwundeten. Der nahm sie dankbar an und ließ sich den alten Verband abwickeln. Der noch brauchbare Teil des Verbandes wurde aufgerollt und von dem letzten blutverkrusteten Verbandsstück mit Georgs Taschenmesser abgetrennt. Dann handelte der Verwundete selber. Er drehte seinen Kopf zur Seite und riss mit einem Ruck, die mit der Wunde verklebte Mullauflage ab, schrie vor Schmerz auf und blickte dann angewidert auf das, was er da freigelegt hatte. Die Wunde rührte von einem Granatsplitter, der den rechten Unterarm aufgeschlitzt hatte. Der Mann hatte noch Glück gehabt, denn der Knochen war unversehrt geblieben. Der heftige Ruck an der Mullbinde hatte an einigen Stellen den Wundschorf aufgerissen. Kleine Blutrinnsale hatten sich neu gebildet und liefen über feuerrote Wundränder, die schon längst hätten zusammengenäht werden müssen. Wenn der Mann das Lager überstehen sollte, würde er ein Leben lang mit einem verkrüppelten Unterarm, der zu nichts mehr taugte, herumlaufen. Georg sah in das vor Schmerz verzerrte Gesicht des Mannes und verfluchte sich, weil er nicht helfen konnte. Er verfluchte aber auch die Amerikaner, weil sie die Verwundeten nicht einmal von den gefangenen deutschen Sanitätern behandeln ließen.

      Steinmetz hatte an einer Sanitäterausbildung teilgenommen und versuchte nun zu helfen. Während einer der Männer den Arm des Verwundeten festhielt, zog Steinmetz Reste der mit der Wunde verklebten Mullbinde mit Hilfe zweier Streichhölzer heraus, die er wie eine Pinzette benutzte. Dann nestelte er an seiner Brusttasche herum und zog ein großes Taschentuch heraus. Daraus bildete er einen langen schmalen Tuchstreifen und legte ihn der Länge nach auf die Wunde. Anschließend wickelte er die Mullbinden um den Arm, die gebrauchte zum Schluss. Dankbar sah ihn der Verwundete an und wollte etwas sagen. Steinmetz hängte ihm die Uniformjacke über die Schultern und kam ihm zuvor: »Ist schon gut! Das sind wir uns doch schuldig!«

      Ganz allmählich löste sich ihre schweigsame Betroffenheit. Sie begannen ihre Situation so anzunehmen, wie sie im Augenblick war, und bauten sich nun Krücken, um mit ihr zurechtzukommen, indem sie Regeln aufstellten: Diebstahl etwa sollte mit dem Ausschluss aus der Schutzgemeinschaft bestraft werden. Denn überall, wo Mangel herrscht, wird auch der unbedeutendste Gegenstand, der das nackte Überleben sichern helfen kann, zum Gegenstand der Begierde und weckt die niedrigsten Instinkte im Menschen.

      Georg sah hin und wieder zu dem Rest der Gruppe hinüber, der mit ihnen hierher getrieben worden war, und bemerkte, dass sich auch dort ein paar größere Gruppen gebildet hatten. Dazwischen saßen oder standen aber auch verlorene kleine Gruppen oder sogar einzelne Soldaten. Zwei Männer fielen ihm dabei wegen ihrer schwarzen Uniformen auf. Es waren Panzersoldaten, die sogar jetzt noch ihre gepolsterten Kopfschützer trugen.

      Die tief hängende Wolkenschicht entließ feine Nieselregenschleier, die die Konturen der Landschaft wie in einem schlecht gemalten Aquarell mit trüben Farben von Schwarz über Schmutzigblau bis Wassergrau ineinander verschwimmen ließen. Das Lager selbst nahm die gesamte tischebene Fläche auf dem Westufer des Rheins ein. Die Stacheldrahtzäune verschmolzen