Eberhard Bordscheck

Der Hölle entkommen


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ihres cages auf den Weg machte, hörten sie näherkommende Marschschritte. Kurz darauf schwenkte eine neue Kolonne Gefangener auf das Haupttor des Lagers zu. Jetzt wurde Georg klar, warum sie so früh am Morgen diese ganze Prozedur über sich hatten ergehen lassen müssen. Ihre Revolte tags zuvor hatte den reibungslosen Ablauf der Lagerbelegung verzögert. Darum hatten sie, bevor neue Hungerleider eintrafen, die Begrüßungszeremonie nachholen müssen.

      Als die Gruppe ihren cage erreichte und in ihrem »Zuhause« wieder ihr verlassenes Nachtlager besetzte, hatte sich Georg tatsächlich einen Wolf gelaufen. Die Zeltbahnbesitzer errichteten ihre Zelte und setzten so markante Punkte in das Nichts. Andere versuchten nun, Schlafmulden aus dem Boden herauszukratzen. Dazu benutzten sie die Löffel ihrer Essbestecke. Auch Georg und Krumbiegl bemühten sich, ein gemeinsames Loch zu erbuddeln. Diesem Beispiel folgten auch andere und machten sich ebenfalls paarweise an die Arbeit, die ein mühevolles Unterfangen war. Der Boden war durch den tagelangen Regen zwar aufgeweicht und die Zusammensetzung des Erdreichs hätte das Graben mit normalen Werkzeugen leicht gemacht, aber ein Löffel ist nun mal ein Löffel und kein Spaten. Der gelockerte Boden wurde mit den bloßen Händen am Rand des ausgehobenen Lochs als Windschutz aufgeschüttet, so, wie sie es im ersten Lager gesehen hatten. Es war eine mühselige Arbeit. Als es gegen Mittag ging, hatten sie gerade eine Handbreit Erde ausgehoben.

      Georg und Krumbiegl schafften bis zum späten Nachmittag eine etwa zwei Handbreit tiefe Mulde. Sie überschlugen ihre Arbeitsleistung und schätzten, dass es sie noch drei Tage Arbeit kosten würde, um ein Loch gebuddelt zu haben, das ausreichend tief war, um sie wenigstens nachts vor den ständig wehenden Winden einigermaßen zu schützen.

      Ein Motorengeräusch auf der Lagerstraße ließ sie plötzlich aufhorchen. Kurz darauf wurde der Drahtverhau zu ihrem cage geöffnet, und ein kleiner Militärlastwagen fuhr hinein. Ein paar GIs sprangen herunter, und ein Corporal pfiff die Gefangenen mit einer Trillerpfeife zum Wagen. Die amerikanischen Soldaten waren alle noch sehr jung. Ihre sauberen Uniformen bildeten einen seltsamen Kontrast zu der auf sie zukommenden zerlumpten Masse. Sie unterschieden sich sogar noch von den Truppen, mit denen es die Gefangenen bisher auf dem Marsch und im Lager zu tun gehabt hatten. Auch der das Kommando führende Corporal war nicht viel älter als seine Soldaten, von denen einige den harten Burschen herauszukehren versuchen, obwohl sie, wie Georg vermutete, wohl noch nie in einem Gefecht gewesen waren. Der Corporal war sichtlich um Autorität bemüht und brüllte ständig Befehle. Inzwischen hatten die Gefangenen den Lastwagen erreicht und vervollständigten das Chaos. Sie umringten ihn und versuchten herauszufinden, was er geladen hatte. Hoffnungsvolle Rufe kamen aus der Menge.

      »Es gibt was zu fressen, Kameraden! Das wird ein Fest!«

      »Macht schon die Klappe auf! Wir haben Kohldampf!«

      Die GIs drängten die hungrigen Gefangenen mit quer vor der Brust gehaltenen Gewehren allmählich zurück und schafften es schließlich irgendwie, die nach Essen gierenden Gefangenen in Reihen zu ordnen. Vielleicht setzte sich auch nur bei den Gefangenen die Erkenntnis durch, dass sie, je geordneter sie anstanden, auch umso eher etwas zu essen bekamen. Einige Gefangene mussten auf den Wagen klettern und ein dreibeiniges Gestell herunterheben, in das ein gummierter Sack eingehängt wurde. Dann wurden Kanister vom Wagen abgeladen, in einer Reihe vor dem Gestell aufgebaut und ihr Inhalt in den Sack geschüttet. Es war klares frisches Wasser.

      Das amerikanische Kommando hatte nur Wasser gebracht. Auf den Gesichtern der Gefangenen zeigte sich grenzenlose Enttäuschung. Nach der enttäuschten Hoffnung vor den Entlausungszelten war dies der zweite Tiefschlag im Laufe des Tages. Niedergeschlagen reihten sie sich in die Schlange ein, um ihre Feldflaschen oder Kochgeschirre mit Wasser zu füllen. Das Begleitkommando stand abseits und sah dem Treiben am Wassersack gelangweilt zu.

      Georg stieß Krumbiegl an. »Komm, lass uns versuchen, einen vollen Kanister zu klauen. Gib’s an die anderen weiter!«

      Krumbiegl nickte.

      Sie waren Verschwörer ohne Plan, doch ein Zufall kam dem Vorhaben zu Hilfe. Das Dreibein hielt dem Geschaukel bei der Wasserentnahme auf dem vom Regen aufgeweichten Untergrund nicht stand, neigte sich plötzlich, stürzte um und ergoss seinen kostbaren Inhalt auf den Boden. In dem allgemeinen Tumult gelang es Randauer und Krumbiegl, einen der vollen Kanister zu sich heranzuziehen. Sie deckten ihn mit ihren Körpern und warfen ihre Mäntel darüber. Die anderen erfassten die Situation sofort und folgten ihrem Beispiel, sodass sich schließlich über dem Kanister ein Mantelberg türmte. Sie taten jetzt sehr geschäftig und versuchten mit viel Hallo, das Gestell wieder aufzurichten.

      Die amerikanischen Soldaten hatten von dem Manöver nichts gemerkt und amüsierten sich über die Bemühungen der Gefangenen beim Wiederaufrichten des Gestells. Der Sack wurde wieder mit Wasser gefüllt, und die Verteilung ging weiter. Der Corporal ließ die leeren Kanister auf den Lastwagen laden, ohne die Anzahl zu kontrollieren. Georg hatte unwillkürlich die Luft angehalten und atmete mit einem »Huh« erleichtert aus, als die GIs aufsaßen und der Lastwagen das cage verließ. Die Männer nahmen ihre Mäntel wieder auf und schleppten ihre Beute mit einem Gefühl des Triumphs zu ihren Löchern. Der Inhalt des Kanisters bedeutete für jeden von ihnen etwa einen Liter Wasser! Mit dem, was sie außerdem in ihre Feldflaschen und Kochgeschirre abgefüllt hatten, waren sie jetzt fast zwei Liter Wasser reich!

      Wind und Regen kamen weiterhin beständig aus Nordwesten, schwächelten manchmal und ließen dann die Hoffnung auf eine Wetteränderung aufkeimen. Georg und Krumbiegl arbeiteten weiter an ihren Löchern. Der heftiger werdende Regen grub kleine Furchen in die Wälle und drohte die ganze Arbeit wieder zunichte zu machen. Als sich die regenschwere Dunkelheit über das Lager senkte, beendeten sie die Arbeit. Sie hatten bis jetzt ein drei Handbreit tiefes Loch erbuddelt, auf dessen Boden sich kleine Pfützen bildeten, und nun suchten sie ihre nähere Umgebung nach Dingen ab, mit denen sich das feuchte Loch einigermaßen auspolstern ließ. Sie fanden das Stück eines Zementsacks und schnitten mit Georgs Taschenmesser vom Regen platt gedrücktes Vorjahresgras ab. Damit bedeckten sie den Boden ihres Lochs und deckten es mit der Zementtüte ab. Sie setzten sich darauf, rückten aneinander und legten sich Georgs Decke über ihre Köpfe und Schultern.

      Georg erinnerte sich an seinen Vorsatz, jeden Abend einen Brief von Marie zu lesen. Als er nach den Briefen in die Jackentasche griff, klatschten ein paar dicke Regentropfen auf seine schmutzigen Hände. Angewidert sah er zu, wie sie sich in den Dreck hineinfraßen und hässliche Muster auf der Haut hinterließen. Da zog er die Hand zurück und beschloss, die Briefe nur bei trockenem Wetter herauszunehmen, um sie nicht zu beschmutzen.

      Die zweite Nacht begann wie die erste. Der Regen fiel gleichmäßig, aber er spürte ihn schon nicht mehr. Der Morgen quälte sich aus der Nacht, so wie der vergangene Abend in die Nacht hineingekrochen war – grau, nass und kalt. Georg wusste nicht, was ihn geweckt hatte, eine Bewegung Krumbiegls, ein eingeschlafener Arm oder der plötzlich mit Windböen daherkommende Regen. Auch Krumbiegl bewegte seine schlafsteifen Glieder, und aus den Nachbarlöchern waren ebenfalls Bewegungen, Hustengekrächze und Fluchen zu vernehmen. Die Gefangenen verließen ihre Löcher, bewegten die steifen Knochen, einige wünschten sogar einen »Guten Morgen« und machten flapsige Bemerkungen über das Hotel und sein Personal. Georg ging ein paar Schritte und spuckte den nach Magensäure und Hunger schmeckenden Speichel in hohem Bogen über den Stolperdraht.

      An diesem Morgen lernten sie auch die Latrinen des Lagers kennen. Sie befanden sich an der Längsseite des Zaunes zum Rhein hin und bestanden aus einem etwa metertiefen Graben, den ein Bagger ausgehoben hatte. Der Aushub war gnädigerweise auf der dem Lager zugewandten Seite des Grabens aufgeworfen worden und diente so als Schamschutz. Der Graben war von den Gefangenen zunächst gar nicht wahrgenommen worden, und bis dahin hatten sie über den Stolperdraht gepinkelt. Da Mägen und Därme leer waren, war die Frage, wo man scheißen könne, gar nicht erst aufgekommen. Irgendjemand hatte an diesem Morgen dann aber doch die Frage nach der Latrine gestellt. Nicht, dass er sie benutzen wollte; die Frage war nur gestellt worden, um irgendeinen Anlass für ein Gespräch zu haben. Nun wurde die Anlage begutachtet. Sie war etwa vierzig Meter lang und so breit, dass sich ein Mann mit gespreizten Beinen darüberstellen konnte, um seine Notdurft zu verrichten. Die Männer sahen sich verblüfft an. Witze wurden gerissen. »Das ist das längste französisch Klo, das isch je gesäen abe!« Gelächter.