Eberhard Bordscheck

Der Hölle entkommen


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hatte er ein Ziel vor Augen, und mit einem Mann wie Krumbiegl an der Seite konnte das Wagnis einer Flucht gelingen.

      »Gut, Karl, ab heute beobachten wir alles, was uns nützlich sein kann. Es geht ohnehin nur nachts. Wir müssen uns merken, wo die Wachposten patrouillieren, wann sie abgelöst werden, ob sie nachlässig sind, alles kann wichtig sein!«

      »Weißt du eigentlich, welchen Tag wir heute haben?«, unterbrach Krumbiegl seinen Gedankengang. Aber Georg hatte aufgehört, die Tage zu zählen. Stunden konnten ohnehin nicht mehr gezählt werden, weil die Uhren fehlten. Die Zeit kroch durch die Tage und Nächte, die keinen erkennbaren Anfang und Ende hatten; sie siechte dahin und verwob zu einem zeitlosen Raum, angefüllt mit Verzweiflung, Hunger und Durst. Sie nahmen ihre Finger zu Hilfe und versuchten, auf ein Datum zu kommen, doch sie kamen zu keinem Ergebnis. Nicht einmal, an welchem Tag sie in Gefangenschaft geraten waren und wie viel Zeit bis zu ihrem Abtransport in dieses Lager vergangen war, konnten sie sicher sagen. Ihr Gefühl sagte ihnen aber, dass es zwischen Mitte und Ende April sein musste.

      Im Nachbarloch beklagten ihre neuen Nachbarn, die Artilleristen, lautstark einen Mangel, über den auch schon viele andere geflucht hatten. Für die Raucher im Lager war eine schwierige Zeit angebrochen. Die letzten Reserven waren ohnehin schon gestreckt worden und hatten sich längst in Rauch aufgelöst. Hier gab es auch keine amerikanischen Soldaten, die halb aufgerauchte Zigarettenkippen vor ihre Füße schnipsten und sich über die Rangeleien beim Aufheben der Kippen halb totlachten. Noch übellauniger machte die Artilleristen, dass sie gerade damit begonnen hatten, sich in den Boden einzugraben. Mehrere Männer aus Georgs Gruppe wurden von ihnen mit rüden Bemerkungen aufgefordert, nicht so dumm zu glotzen.

      »Georg, Georg, da braut sich was zusammen! Mit den Kerlen kriegen wir noch Ärger!«, prophezeite Krumbiegl.

      Randauer lugte aus seinem Loch herüber und stieß Krumbiegl an: »Schaut euch mal den Klümper an, was hat der denn vor?«

      Klümper hatte, seit sie hier im Lager waren, nicht ein Wort von sich gegeben. Er teilte sich ein Loch mit Steinmetz und starrte nur vor sich hin. Steinmetz hatte öfter versucht, ihn aufzumuntern, als Antwort erhielt er aber immer nur ein gequältes Lächeln. Nun aber war Klümper aus dem Loch gekrochen und ging auf eine kleine Gruppe Luftwaffenhelfer zu, die nicht älter als sechzehn Jahre alt sein konnten und wohl gerade erst in den cage gebracht worden waren, denn Georg und Krumbiegl bemerkten sie erst jetzt. Sie wirkten noch hilfloser und verlorener als die elenden Gestalten um sie herum. Einige von ihnen trugen Verbände, manche versuchten, Tränen zurückzuhalten.

      »Schau dir das an, Karl, mit diesen Jüngelchen wollte der Gröfaz die Feindbomber aufhalten«, entfuhr es Georg. »Wie viele von denen mag es erwischt haben? Die haben hier doch nichts verloren. Die sollten zu Hause sein!«

      Klümper hatte die Luftwaffenhelfer inzwischen erreicht und sprach sie an. Georg sah, wie sie die Köpfe schüttelten und mit den Schultern zuckten. Dann zeigte Klümper eine Fotografie herum. Erneutes Kopfschütteln, weitere Fragen Klümpers, wieder Schulterzucken, bis auf einen Jungen, der ihn plötzlich, als er sich schon umgewandt hatte, an den Arm fasste und etwas zu erklären schien. Klümpers Miene hellte sich auf und er strich dem Jungen über den Kopf, wie er es wohl bei seinem Sohn getan hätte, und ging zu seinem Loch zurück.

      »Konnten dir die Jungs etwas sagen, Klümper?«, sprach Georg ihn aus seinem Loch heraus an. Er rechnete allenfalls mit einem knappen Ja oder Nein, und so war er völlig überrascht, als Klümper stehen blieb, zu ihm herunterschaute und in einem fast normalen Gesprächston antwortete. »Sie sagen, sie wären irgendwo in Bochum eingesetzt gewesen. Sie sollten mit ihrer Flakstellung ein Umspannwerk vor Bombenangriffen schützen. Meinen Jungen kannten sie nicht. Aber der eine da, der Kleine, erzählte mir, dass viele Geschützführer ihre Jungs wieder nach Hause geschickt hätten. Nur ihrer nicht, der wäre so ein Nazi-Sturkopf gewesen und hätte sie dabehalten, sonst wären sie jetzt auch zu Hause …!«

      Es war wohl diese Bemerkung des Jungen, die Klümper wieder Hoffnung gemacht hatte, und Georg beeilte sich, ihn darin zu bestärken. »Dann ist dein Junge bestimmt auch zu Hause! Wer weiß, vielleicht haben sie ihn sogar nicht einmal mehr eingezogen!«

      Klümper nickte. Dann verdüsterte sich sein Gesicht plötzlich wieder. »Wenn er nur an keinen Nazi-Sturkopf geraten ist! An so einen, wie ich früher auch gewesen bin!«

      Erstaunt blickte Georg ihn an. »Ein Nazi? Du?«

      »Jetzt nicht mehr. Schon lange nicht mehr …« Klümpers Stimme verklang. Ohne ein weiteres Wort stieg er wieder in sein Loch hinab.

      Georg versuchte, sich Klümper als Nazi-Sturkopf vorzustellen. Es gelang ihm nicht. So richtig stur, dachte er, ist er bestimmt nie gewesen. Sonst wäre er ja nicht vom Glauben an die Allwissenheit und die Allgüte seines Führers abgefallen.

      Die fast religiösen Züge der Hitler-Verehrung waren wohl einer der Gründe, warum es da, wo Georg herkam, noch nie viele echte Nazi-Sturköpfe gegeben hatte. Dort war man katholischen Glaubens. Das Gebot »Du sollst keine anderen Götter neben mir haben!« wurde ernst genommen, und die Nazis bestätigten rasch den Verdacht, zu den anderen neun Geboten auch kein rechtes Verhältnis zu haben. Deshalb standen die meisten Leute, die er kannte, den Nazis eher reserviert gegenüber. Er selbst war zwar, verlockt von Lagerfeuerromantik und der Aussicht auf Abenteuer, Mitglied in der Hitler-Jugend geworden, hatte dann aber einsehen müssen, dass die spannenden Aktivitäten durch viel zu viele langweilige politische Schulungen, durch Sammelbüchsenaktionen, dazu noch Strammstehen und Angebrülltwerden erkauft werden mussten. Er begann sich davor zu drücken.

      Mit der langen Zugfahrt ins Gymnasium in der Kreisstadt und dem hohen Lernpensum konnte er sein Fernbleiben meistens erklären. Reichte das nicht aus, konnte er seine Mutter manchmal zu einem Verstoß gegen das achte Gebot überreden. Sie und der Vater waren ohnehin nie glücklich über seine Mitgliedschaft in der HJ gewesen, auch wenn sie es ihm nicht verboten hatten.

      Diese Erfahrung war ihm eine Lehre. Als er nach dem Ende seiner Schulzeit in Münster mit dem Studium der Tiermedizin begann, hielt er sich vom Studentenbund der Nazis fern.

      An diesem Abend machten sich Georg und Krumbiegl erste Gedanken über ihre Flucht, wenn sie auch einen genauen Fluchtplan erst entwickeln konnten, nachdem sie so viele Einzelheiten wie möglich in Erfahrung gebracht hatten. Das war nur möglich, wenn sich im täglichen Verlauf des Lagerlebens so etwas wie Regelmäßigkeiten erkennen ließen. Besonders das Verhalten der Posten bei Nacht und der Einsatzbereich der Scheinwerfer würden wichtig sein. Darüber, wie es nach der geglückten Flucht über den Rhein dann weitergehen könnte, machten sie sich noch keine großen Gedanken. Nur eines war bis dahin wichtig, sie mussten gesund bleiben! Aber dazu war natürlich eine einigermaßen geregelte Verpflegung nötig, und darauf konnte man sich im Augenblick wenig Hoffnung machen.

      Bevor es dunkel wurde, nahm Georg den ersten von Maries Briefen aus der Brieftasche, glättete ihn und legte ihr Foto darauf. Er schaute das Foto lange an und zeichnete mit seinen Fingern die Konturen ihres Gesichtes nach. Als er einen Blick auf das Datum des Briefes warf, überkam ihn ein leichter Schauer des Erschreckens. Der Brief war über vier Jahre alt. Sie erzählte ihm darin von dem beschaulichen Leben daheim, ein Leben, in dem der Krieg nur im Zusammenhang mit ihm und den Sorgen vorkam, die sie sich um ihn machte. In jedem Satz und zwischen den Zeilen erfuhr er, wie sehr sie ihn vermisste. So ganz nebenbei berichtete sie dann auch, dass sie ihr Lehramtsstudium vorläufig zurückstellen musste, weil sie für das Kreiskrankenhaus dienstverpflichtet worden war. Mein Gott, dachte er, wie alt waren wir da? Wir könnten jetzt beide schon mit dem Studium fertig sein! Schon längst hätten wir unser gemeinsames Leben beginnen können, heiraten, eine Familie werden, einfach nur in Frieden leben können – und alle anderen um mich herum auch! Stattdessen haben wir Krieg geführt, Menschen umgebracht, uns von anderen umbringen lassen! Warum nur haben uns diese verdammten Nazis nicht einfach nur leben lassen? Was hatte ihnen die Welt nur getan, dass sie sich mit ihr anlegen mussten? Dass wir jetzt hier in diesem Dreckloch sitzen und hungern und frieren, verdanken wir nur diesem verdammten Gehorsam, dem Treueeid, den wir einem Verrückten geschworen und eingehalten haben, auch dann noch, als wir erkannten, dass er verrückt war. Manche vertrauten dem Verrückten ja sogar jetzt immer noch.

      Die