Charles Dickens

Die Pickwickier


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mein Herr!"

      Mr.Tupmans Augen leuchteten vielsagend, und Miß Rachel drückte Besorgnis aus, man könnte schon wieder Kanonen losschießen, in welchem Falle sie natürlich abermals auf den Beistand des Herrn rechnen würde.

      "Halten Sie meine Nichten für hübsch?" flüsterte sie zärtlich.

      "Ausnehmend, wenn ihre Tante nicht hier wäre", versetzte der gewandte Pickwickier mit einem Glutblick.

      "Oh, Sie Schlimmer! – Aber wirklich, wenn ihr Teint ein wenig lebhafter wäre, glauben Sie nicht, sie würden nicht übel aussehen? – Bei künstlichem Licht, meine ich."

      "Sicherlich", erwiderte Mr. Tupman zerstreut.

      "Oh, Sie Spötter – ich weiß, worauf Sie anspielen."

      "Worauf denn?" fragte Mr. Tupman, der sich einen Augenblick gar nichts gedacht hatte.

      "Sie wollten sagen, Isabella hält sich, schlecht – ihr Männer seid so scharfe Beobachter. Ja, ja, es ist so; man kann es nicht leugnen, und gewiß, wenn es etwas gibt, was ein Mädchen entstellt, so ist es eine schlechte Haltung. Wie oft habe ich ihr gesagt, wenn sie nur ein bißchen älter sein wird, wird es sie geradezu verunstalten. Ja, ja, Sie sind ein Spötter!"

      Mr. Tupman hatte nichts dagegen, so wohlfeil zum Rufe eines Frauenkenners zu kommen. Er setzte eine schlaue Miene auf und lächelte geheimnisvoll.

      "Welch ein sarkastisches Lächeln!" sagte Miß Rachel im Tone der Bewunderung. "Ich versichere Ihnen, ich fürchte mich vor Ihnen."

      "Sie fürchten sich vor mir!?"

      "Oh, Sie können mir nichts verbergen; ich weiß, was dieses Lächeln zu bedeuten hat. – Oh, wie gut!"

      "Was denn?" fragte Mr.Tupman, der selbst nicht den mindesten Begriff davon hatte.

      "Sie meinen", flüsterte die liebenswürdige Tante, "Sie meinen, Isabellas schlechte Haltung ist ebenso schlimm wie Emiliens Dreistigkeit. Ja, ja, sie ist sehr vorlaut! Sie können sich nicht denken, was mir das zuweilen für Sorgen macht – ich weine oft stundenlang deswegen. – Mein lieber Bruder ist so gut, so arglos, daß er es gar nicht sieht. Ach, wenn er es gewahr würde, es müßte ihm sicher das Herz brechen. Ich wollte, ich könnte mir einreden, es wäre nur eine schlechte Angewohnheit. Ach, wenn es so wäre!" – Die zärtliche Verwandte stieß einen tiefen Seufzer aus und schüttelte hoffnungslos den Kopf.

      "Ich möchte wetten, die Tante spricht von uns", flüsterte Miß Emilie Wardle ihrer Schwester zu. "Sie sieht so boshaft aus."

      "Glaubst du?" fragte Isabella. "Hm! Tante, liebe Tante!"

      "Was, mein Liebling?"

      "Ich fürchte so, du wirst dich erkälten, Tante. Binde dir doch ein seidenes Tuch um dein liebes altes Gesicht. Du mußt dich in acht nehmen, denk an deine Jahre!"

      So wohlverdient diese kleine Züchtigung auch sein mochte, soviel Rachsucht klang aus ihr. Auf welche Weise sich die Entrüstung der Tante wieder Luft gemacht haben würde, ist schwer zu erraten, aber zum Glück gab Mr.Wardle unabsichtlich der Aufmerksamkeit der Gesellschaft eine andre Richtung, indem er laut nach Joe rief.

      "Verdammter Junge, schläft er schon wieder."

      "Ein höchst seltsamer Knabe das", bemerkte Mr. Pickwick, "ist er immer so schläfrig?"

      "Schläfrig?!" sagte der alte Herr. "Er schläft den ganzen Tag. Er schläft beim Gehen ein und schnarcht, wenn er bei Tisch serviert."

      "Sehr seltsam", bemerkte Mr. Pickwick.

      "Ja, in der Tat, seltsam", versetzte der alte Herr. "Ich bin stolz auf den Jungen – ich würde mich unter keiner Bedingung von ihm trennen, wahrhaftig; es ist ein Naturspiel! He, Joe – Joe, räum die Sachen ab und mach eine neue Flasche auf – hörst du?"

      Der fette Junge erwachte, öffnete die Augen, würgte das ungeheure Stück Taubenpastete hinunter, an dem er gerade gekaut hatte, als ihn der Schlaf übermannt, und kam langsam dem Befehl seines Herrn, auf die Überbleibsel des Mahles schielend, nach und räumte das Geschirr in den Korb. Eine frische Flasche erschien und wurde alsbald geleert; der Korb kam wieder auf seinen alten Platz, der fette Junge stieg auf den Bock, die Brillen und Ferngläser wurden abermals hervorgenommen, und die Manöver der Armee begannen aufs neue. Die Geschütze brüllten, die Damen kreischten, eine Mine flog zur allgemeinen Befriedigung auf, und Militär und Gesellschaft traten den Heimweg an.

      "Ich hoffe", sagte der alte Herr beim gemeinsamen Händen schütteln, als das Schauspiel zu Ende war, "ich hoffe, wir sehen uns also morgen."

      "Ganz bestimmt", erwiderte Mr. Pickwick.

      "Sie haben doch meine Adresse?"

      "Manor Farm, Dingley Dell", sagte Mr. Pickwick, sein Taschenbuch zu Rate ziehend.

      "Stimmt", versetzte der alte Herr, "und ich gedenke, Sie vor einer Woche nicht fortzulassen. Sie müssen alles besichtigen, was irgend sehenswert ist. Wenn Ihnen am Landleben etwas liegt, so kommen Sie nur zu mir, dort finden Sie es in Hülle und Fülle. Joe – verdammter Junge, schläft er schon wieder – Joe, hilf Tom einspannen."

      Die Pferde wurden eingespannt, der Kutscher bestieg seinen Bock, der fette Junge rutschte an seine Seite, man verabschiedete sich allerseits, und der Wagen rollte von dannen. Als die Pickwickier sich umwandten, um einen letzten Blick auf die Scheidenden zu werfen, fielen die Strahlen der untergehenden Sonne eben auf deren Gesichter und beleuchteten die Gestalt des fetten Jungen. Sein Kopf war ihm auf die Brust gesunken, und er schlummerte fest.

      Hell und heiter war der Himmel, balsamisch war die Luft, und alles ringsum lieblich anzuschauen, als Mr. Pickwick, in den Anblick der herrlichen Natur versunken, an dem Geländer der Brücke von Rochester lehnte und auf das Frühstück wartete. Die Landschaft bot in der Tat einen so reizenden Anblick, daß sie wohl auch auf ein weniger beschauliches Gemüt einen tiefen Eindruck gemacht haben würde.

      Dem Beschauer zur Linken lag eine verfallene Mauer, an manchen Stellen zusammengestürzt und an ändern in schweren Massen über das schmale Ufer vorhängend. Die ausgezackten und scharfumrissenen Uferfelsen bedeckten dichte Büschel von Seegras, die in jedem Lufthauch erzitterten, und der grüne Efeu rankte sich melancholisch um das düstere, verfallene Gemäuer. – Im Hintergrund erhob sich das alte Schloß mit seinen dachlosen Türmen, die massiven Mauern zerbröckelt, ebenso stolz von früherer Macht erzählend wie damals, als es vor siebenhundert Jahren von Waffenklang oder festlichen Gelagen widerhallte. Auf beiden Seiten dehnten sich die Ufer der Medway, mit Saatfeldern und Wiesen bedeckt, hier und dort von einer Windmühle oder einer fernen Kirche unterbrochen; soweit das Auge reichte, eine volle und bunte Landschaft, deren Reiz die wechselnden Schatten noch erhöhten, die darüber hineilten, wie die leichten Wolken in dem Licht der Morgensonne fortzogen. – Der geräuschlos dahingleitende Fluß spiegelte das klare Himmelsblau, und die Ruder der Fischer tauchten mit hellem, plätscherndem Ton in das "Wasser, wie die plumpen, aber pittoresken Boote langsam stromabwärts trieben.

      Ein tiefer Seufzer und ein leichter Schlag auf die Schulter weckten Mr. Pickwick aus seinen angenehmen Träumen, in die ihn diese Szenerie eingewiegt hatte, und als er sich umwandte, stand der trübsinnige Jemmy vor ihm.

      "Sie betrachten die Gegend, Sir?"

      "Jawohl", versetzte Mr. Pickwick.

      "Und freuen sich, daß Sie so früh aufgestanden sind?"

      Mr. Pickwick nickte stumm.

      "Ach, man sollte immer früh aufstehen, um die Sonne in ihrem vollen Glänze zu genießen, denn sie strahlt selten so hell tagsüber. Der Morgen des Tages und der Morgen des Lebens gleichen sich nur zu sehr."

      "Sehr richtig, Sir", sagte Mr. Pickwick.

      "Wie oft pflegt man zu sagen", fuhr der Trübsinnige fort, "der Tag fängt zu schön an, um so