Charles Dickens

Die Pickwickier


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oder sie für immer vergessen könnte!"

      "Sie haben viel Trauriges erlebt?" fragte Mr. Pickwick teilnehmend.

      "Allerdings", versetzte der Trübsinnige hastig, "mehr als jemand, der mich jetzt kennt, für möglich halten sollte." Er schwieg einen Augenblick und setzte dann hinzu: "Hat Sie wohl je an einem solchen Morgen schon der Gedanke beschlichen, daß im Ertrinken Friede und Seligkeit liegen könnte?"

      "Gott steh mir bei, nein", erwiderte Mr. Pickwick, einen Schritt von der Balustrade zurücktretend, weil ihn der Gedanke an die Möglichkeit erschreckte, der Trübsinnige könnte ihn hinunterschleudern, um ihn den Versuch machen zu lassen.

      "Ich bin schon oft mit dem Gedanken umgegangen", fuhr der Trübsinnige fort, ohne auf Mr. Pickwicks Bewegung zu achten. "Die stille kühle Flut scheint mir eine Einladung zur Ruhe und zum Frieden zu murmeln. – Ein Sprung – ein Plätschern – ein kurzer Kampf – ein Wasserwirbel, der allmählich abnimmt und immer kleinere Wellen wirft – die Gewässer schließen sich, und alles Erdenleid ist vorüber."

      Die eingesunkenen Augen des Trübsinnigen leuchteten auf, während er so sprach; doch seine momentane Erregung wich sogleich wieder seiner gewohnten Ruhe, und er fuhr gelassen fort:

      "Genug davon! Ich möchte wegen etwas ändern mit Ihnen sprechen. Sie baten mich vorgestern abend, Ihnen vorzulesen, und hörten aufmerksam zu ..."

      "Allerdings", versetzte Mr. Pickwick, "und ich meinte wirklich ..."

      "Ich habe nicht gefragt, um Ihr Urteil zu hören, und ich bedarf dessen nicht", unterbrach ihn der Trübsinnige. "Sie reisen zum Vergnügen und zur Belehrung. Was meinen Sie, wenn ich Ihnen ein interessantes Manuskript mitteilte? – Doch merken Sie wohl, interessant, nicht etwa wegen seines schauerlichen und unwahrscheinlichen Inhalts, sondern als ein Blatt aus der Romantik des wirklichen Lebens. Würden Sie es wohl dem Klub mitteilen, den Sie so häufig erwähnten?"

      "Sicherlich", erwiderte Mr. Pickwick, "wenn Sie es wünschen. Es würde sodann den Klubakten einverleibt werden."

      "Also gut", sagte der Trübsinnige und fragte nach Mr. Pickwicks Adresse.

      Mr. Pickwick nannte seine und seiner Freunde wahrscheinliche Reiseroute, der Trübsinnige notierte sie sorgfältig in einem schmutzigen Taschenbuch, lehnte Mr. Pickwicks Einladung zum Frühstück ab, begleitete ihn bis zum Gasthof und ging dann langsam seines Weges.

      Mr. Pickwick wurde bereits von seinen drei Reisegefährten beim Frühstück erwartet, das ihrer, trefflich serviert, im Speisesaal harrte. Sie nahmen Platz, und gekochter Schinken, Eier, Tee und Kaffee begannen mit einer Schnelligkeit zu verschwinden, die sowohl von der Vorzüglichkeit der Speisen wie von dem guten Appetit der Reisenden Zeugnis ablegte.

      "Aber jetzt müssen wir an Manor Farm denken", sagte Mr. Pickwick. "Wie wollen wir die Reise dorthin machen?"

      "Es wäre vielleicht das beste, wenn wir den Kellner darüber fragten", meinte Mr. Tupman, und so wurde denn der Kellner gerufen.

      "Dingley Dell – fünfzehn Meilen, meine Herren – Feldwege –. Postpferde, meine Herren?"

      "In einer Postchaise würden nur zwei von uns Platz haben", gab Mr. Pickwick zu bedenken.

      "Allerdings, Sir – bitte um Entschuldigung, Sir – sehr hübscher vierrädriger Wagen hier, Sir – Sitze innen für zwei Herren – einer zum Kutschieren – oh, ich bitte um Vergebung, Sir – das würde ja auch nur für drei genügen."

      "Was ist da zu tun?" fragte Mr. Snodgraß.

      "Vielleicht beliebt es einem von den Herren, zu reiten?" versetzte der Kellner mit einem Blick auf Mr. Winkle. "Sehr gute Reitpferde, Sir. Wenn einer von Mr. Wardles Leuten nach Rochester kommt, kann er die Pferde und den Wagen zurückbringen, Sir."

      "Das läßt sich hören", meinte Mr. Pickwick. "Winkle, wollen Sie reiten?"

      In den verborgensten Tiefen von Mr. Winkles Herzen stiegen große Bedenken auf, aber da er sich um keinen Preis etwas vergeben wollte, erwiderte er sogleich mit der größten Zuversicht:

      "Mit Vergnügen. Ich ziehe diese Art zu reisen sogar jeder ändern vor."

      Mr. Winkle hatte sein Schicksal herausgefordert, und jetzt gab es natürlich kein Zurück mehr.

      "Also lassen Sie alles für elf Uhr vorbereiten", befahl Mr. Pickwick.

      "Sehr wohl, Sir", versetzte der Kellner und entfernte sich.

      Nach dem Frühstück verfügten sich die Reisenden auf ihre Zimmer, um die Kleider zu wechseln und ihre Effekten einzupacken. Mr. Pickwick hatte seine Vorbereitungen beendigt und betrachtete eben vom Fenster des Gastzimmers aus die Vorübergehenden auf der Straße, da trat der Kellner ein und meldete, der Wagen stünde bereit; wie zur Bestätigung dieser Meldung wurde im gleichen Augenblick der Wagen vor dem Hotel sichtbar.

      Es war ein seltsamer, kleiner grüner Kastenwagen auf vier Rädern mit einem Sitz für zwei Personen, so eng und niedrig wie eine Schublade, und einem hohen Bock, der freilich nur einen Sitzplatz aufwies. Er wurde von einem Braunen gezogen, dessen Knochenbau zwar riesenhaft, aber sonst durchaus ebenmäßig war. Daneben stand ein Stallknecht mit einem anderen Riesengaul – offenbar einem nahen Verwandten des ersten –, den man für Mr. Winkle gesattelt hatte.

      "Lieber Gott", rief Mr. Pickwick aus, als er mit seinen Freunden vor die Tür trat, "lieber Gott, wer soll denn kutschieren? Daran habe ich ja gar nicht gedacht."

      "Natürlich Sie", sagte Mr. Tupman.

      "Ich?"

      "Bloß keine Angst nicht, Sir", warf der Stallknecht ein. "Garantiert lammfromm; mit dem würde ja ein Kind fertig werden."

      "Er ist also nicht scheu?" fragte Mr. Pickwick.

      "Scheu, Sir? – Der scheut nicht, und wenn er an einem ganzen Wagen voll Affen mit verbrannten Schwänzen vorbei müßte."

      Diese Versicherung zerstreute die letzten Bedenken; Mr. Tupman und Mr. Snodgraß stiegen ein, und Mr. Pickwick erklomm den Bock.

      "Nun, Glanz-Willem", sagte der Stallknecht zu seinem Adjunkten, "gib dem Herrn die Zügel."

      Der Glanz-Willem, wahrscheinlich wegen seines angepappten Haares und seines fettschimmernden Gesichtes so genannt, legte die Zügel in Mr. Pickwicks linke Hand, und der Stallknecht drückte ihm die Peitsche in die rechte.

      "Brrr!" rief Mr. Pickwick, als der gigantische Vierfüßler eine entschiedene Neigung an den Tag legte, den Wagen nach rückwärts in die Fenster des Gastzimmers zu drängen.

      "Brrr!" wiederholten Mr. Snodgraß und Mr. Tupman aus dem Wagen.

      "'s is bloß Stallfeuer, Sir", sagte der Oberstallknecht ermutigend. "Halt ihn fest, Willem!"

      Der Adjunkt tat der Lebhaftigkeit des Tieres Einhalt, und der Stallknecht trat zu Mr. Winkle, um ihm beim Aufsteigen behilflich zu sein.

      "Auf der ändern Seite, Sir, wenn's gefällig ist", sagte er.

      "Mir scheint, gar, der Herr steigt rechts auf", murmelte grinsend ein Postknecht zur unendlichen Erheiterung des Kellners.

      So belehrt, kletterte Mr. Winkle in den Sattel, ungefähr mit der Leichtigkeit, mit der er seitlich an einem Linienschiff aufgeentert wäre.

      "Alles in Ordnung?" fragte Mr. Pickwick mit einem dunkeln Vorgefühl, daß die Verwirrung jetzt erst recht losgehen würde.

      "Alles in Ordnung!" antwortete Mr. Winkle mit beklommener Stimme.

      "Also fertig!" sagte der Stallknecht. "Nur die Zügel nicht loslassen, Sir."

      Und fort rollte der Wagen, und fort sprengte Mr. Winkle, zum größten Gaudium des ganzen dienenden Gasthofpersonals.

      "Warum geht er denn immer seitwärts?" rief Mr. Snodgraß im Wagen Mr. Winkle im Sattel zu.

      "Es ist mir unerklärlich", erwiderte Mr. Winkle, dessen Pferd in der seltsamsten Weise, den Kopf nach der einen und den Schweif nach der ändern Seite der Straße