werde es schon hinkriegen", sagte Mr. Tupman laut.
Ganz meinerseits! dachte Mr. Jingle. Dann traten sie ins Haus.
Die Mittagsszene wiederholte sich am Abend, und desgleichen an den drei nächstfolgenden Mittagen und Abenden. Am vierten war der Wirt ungemein aufgeräumt, denn er hatte sich von der Grundlosigkeit eines Verdachtes gegen Mr. Tupman überzeugt. Bei diesem war dasselbe der Fall, da ihm Mr. Jingle mitgeteilt hatte, die Sache würde sich jetzt bald entscheiden. Mr. Pickwick war ebenfalls sehr heiter, denn das lag in seinem Naturell. Nur von Mr. Snodgraß ließ sich dies nicht sagen, denn er war eifersüchtig auf Mr. Tupman, wähnend wiederum die alte Dame, weil sie im Whistspiel gewonnen, und Mr. Jingle nebst Fräulein Tante – aus Gründen, die in einem andern Kapitel unsrer ereignisreichen Geschichte erzählt werden sollen – sich der fröhlichen Stimmung der Mehrzahl anschlössen.
Zehntes Kapitel: Entdeckung und Verfolgung.
Die Speisen standen auf dem Tisch, die Stühle waren zurechtgerückt, Flaschen, Krüge und Gläser aus dem Wandschrank hervorgeholt, und alles kündigte das Herannahen es vergnüglichsten Zeitabschnittes in dem Vierundzwanzig-Stunden-Bogen des Tages an.
"Wo ist Rachel?" fragte Mr. Wardle.
"Ja, und Mr. Jingle?" fügte Mr. Pickwick hinzu.
"Merkwürdig, daß ich ihn nicht schon früher vermißte. Mir fällt jetzt auf, daß ich seine Stimme wenigstens schon zwei Stunden nicht mehr gehört habe. Liebe Emilie, klingle noch einmal!"
Die Klingel wurde gezogen, und der dicke Junge trat ins Zimmer.
"Wo ist Miß Rachel?"
Achselzucken.
"Und Mr. Jingle?"
Abermals Achselzucken.
Alle blickten sich überrascht an. Es war spät, bereits elf Uhr vorbei. Mr. Tupman lachte sich ins Fäustchen. Sie spazierten natürlich irgendwo herum, um den Verdacht auf eine falsche Fährte zu lenken, und sprachen dabei von ihm. Haha! Ein famoser Einfall. Schrecklich komisch!
"Macht weiter nichts", meinte Mr. Wardle nach einer kurzen Pause. "Ich wette, sie müssen jeden Augenblick kommen. Mit dem Nachtessen warte ich prinzipiell auf niemand."
"Eine treffliche Hausregel, das", bemerkte Mr. Pickwick. "Wirklich ausgezeichnet."
Ein ungeheures Stück kalter Rinderbraten kam auf den Tisch, und Mr. Pickwick wurde mit einer kräftigen Portion davon versehen. Er brachte eben die Gabel an die Lippen und war im Begriffe, den Brocken seinen Zähnen zu überliefern, als sich plötzlich von der Küche her der summende Ton zahlreicher Stimmen vernehmen ließ. Er hielt inne und legte die Gabel nieder. Mr. Wardle horchte ebenfalls auf und ließ unwillkürlich das Tranchiermesser in der Rindskeule stecken.
Schwere Fußtritte ließen sich im Hausflur vernehmen. Die Tür ging plötzlich auf, und herein trat der Mann, der Mr. Pickwick gleich bei seiner ersten Ankunft die Stiefel gereinigt hatte, hinter ihm der fette Junge und das ganze Hausgesinde.
"Was, zum Teufel, soll das heißen?" rief der Hausherr.
"Der Küchenschornstein hat Feuer gefangen, nicht wahr, Emma?" forschte die alte Dame.
"Aber nein, Großmama, gewiß nicht!" riefen die beiden jungen Damen.
"Was ist denn also los?" schrie der Hausherr.
Der Mann schnappte nach Luft und keuchte mit schwacher Stimme:
"Sie sind fort, reineweg getürmt, Sir!"
Mr. Tupman ließ Messer und Gabel fallen und erblaßte.
"Wer ist fort?" schrie Mr. Wardle heftig.
"Mr. Jingle und Miß Rachel! – In einer Postkutsche, vom ,Blauen Löwen' in Muggleton aus. Ich war dort, hab sie aber nicht aufhalten können, und da bin ich schnell hergelaufen, um's zu melden."
"Und das auf meine Kosten!" rief Mr. Tupman, aufspringend und ganz außer sich. "Er hat mir zehn Pfund herausgelockt! Haltet ihn auf! Er hat mich betrogen! Ich lasse mir das nicht gefallen! Ich will Gerechtigkeit haben! Pickwick! Ich ertrage das nicht!"
Mit diesen und ähnlichen unzusammenhängenden Ausrufen raste der unglückliche Gentleman wie toll im Zimmer umher.
"Gott steh uns bei!" rief Mr. Pickwick, das außerordentliche Gebaren seines Freundes mit entsetzten Blicken betrachtend. "Er ist. übergeschnappt! Was fangen wir nur an?"
"Anfangen?" wiederholte, geistesabwesend, der Hausherr, der bloß Pickwicks letztes Wort gehört hatte. "Spannt das Pferd ins Gig! Ich will im ,Löwen' eine Postchaise nehmen und ihnen augenblicklich nachsetzen. Wo", rief er, als der Mann sich entfernte, um den Befehl zu vollziehen, "wo ist der Halunke, der Joe?"
"Hier! Gar nicht Halunke", versetzte eine Stimme. Es war die des fetten Jungen.
"Lassen Sie mich, Pickwick!" schrie Wardle, riß sich los und stürzte sich auf den unglücklichen Jüngling. "Er hat sich von diesem Schurken, dem Jingle, bestechen lassen und mir einen Floh ins Ohr gesetzt, mit einer Geschichte von meiner Schwester und Ihrem Freunde Tupman." – Mr. Tupman sank in seinen Stuhl zurück. – "Lassen Sie mich, ich muß ihm zu Leibe."
"Halten Sie ihn fest!" kreischten die Damen, aus deren Geschrei man das Heulen des fetten Jungen deutlich heraushören konnte.
"Weg da!" rief der alte Herr. "Zurück, Mr. Winkle! Lassen Sie mich los, Mr. Pickwick!"
Es war ein erhebender Anblick, mitten in diesem Tumult und der grenzenlosen Verwirrung den friedlichen und philosophischen Ausdruck in Mr. Pickwicks Antlitz zu betrachten, wie er, allerdings ein wenig gerötet von der Kraftanstrengung, die weite Taille seines korpulenten Wirtes mit starken Armen umschlingend, dastand und ihn von Tätlichkeiten zurückhielt, während der fette Junge von der Damenschar zur Tür hinausgeschoben und –gezerrt wurde. Mr. Pickwick hatte indes kaum losgelassen, als der Bediente mit der Meldung hereintrat, daß das Gig bereitstehe.
"Lassen Sie ihn nicht allein fort!" jammerten die Damen. "Er wird jemand töten!"
"Ich werde ihn begleiten!" beruhigte Mr. Pickwick sie sogleich.
"Sie sind ein wackerer Freund, Pickwick", sagte Mr. Wardle, die Hand des Gelehrten ergreifend. "Emma, leg Mr. Pickwick einen Schal um; rasch! Seht nach eurer Großmutter, Mädchen; sie ist ohnmächtig geworden. Also, kommen Sie schon! – Sind Sie fertig?"
Da Mr. Pickwick inzwischen Mund und Kinn hastig in ein großes Tuch gehüllt, den Hut auf den Kopf gestülpt und den Reisemantel über den Arm genommen hatte, antwortete er mit Ja.
Sie sprangen in das Gig.
"Laß dem Gaul die Zügel, Tom!" rief Mr. Wardle. Und fort ging's, über die schmalen Feldwege weg, holterdiepolter über die Wagengeleise und an den Hecken vorbei, daß alle Augenblicke zu befürchten stand, das leichte Fuhrwerk könne in Stücke gehen.
"Wieviel haben sie Vorsprung?" keuchte Mr. Wardle, als das Gig vor dem "Blauen Löwen" anlangte, um den sich, so spät es war, bereits ein kleines Häuflein Neugieriger versammelt hatte.
"Nicht über dreiviertel Stunden", lautete die vielstimmige Antwort.
"Schnell einen Vierspänner! Heraus damit! Das Gig könnt ihr ja nachher ausspannen."
"Los, Jungens!" schrie der "Blaue Löwe", "eine Chaise und vier Pferde! Flott, flott! Mehr Leben in die Bude!"
Die Knechte und Stallburschen eilten hinweg; Laternen bewegten sich hin und her, Pferdehufe klapperten auf dem holperigen Hofpflaster, die Chaise rumpelte aus dem Kutschenschuppen heraus, und alles war voll Leben und Bewegung.
"Nun, wird's noch diese Nacht?" rief Wardle ungeduldig.
"Kommt eben in den Hof, Sir", versetzte ein Stallknecht. Und der Wagen kam, die Pferde wurden eingespannt, der Kutscher sprang herzu, die Reisenden stiegen ein.
"Wohlverstanden, die Siebenmeilenstation muß in weniger als einer halben Stunde gemacht sein",