Charles Dickens

Die Pickwickier


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zeigte sich in der oberen Schlafzimmergalerie ein schmuckes Zimmermädchen; es klopfte an eine Tür, bekam von innen einen Auftrag und rief über das Geländer:

      "Sam!"

      "Hallo?" erwiderte der Mann mit dem weißen Hut.

      "Nummer zweiundzwanzig will seine Stiefel."

      "Frag Nummer zweiundzwanzig, ob er sie gleich jetzt haben will oder ob er warten will, bis er sie kriegt", war die Antwort.

      "Mach doch keine Dummheiten, Sam", entgegnete das Mädchen begütigend. "Der Herr will die Stiefel jetzt."

      "So, will er das, mein Jüngferchen? Aber ich tanze doch nicht nach deiner Pfeife", sagte der Stiefelputzer. "Sieh mal diese Stiebel an: elf Paar, und ein unverheirateter Schuh, wo dem Stelzbeinigen Nummer sechs gehört. Die elf Paar sin bis halb neun und der Unverheiratete bis neun Uhr bestellt. Wer ist Nummer zweiundzwanzig, daß er den andern ausstechen will? Nein, nein; 's muß allens die Reihe nach gehen, wie der Henker immer sagte, wenn er 'n heißen. Arbeitstag hatte. Tut mir leid, Sir, daß Sie warten müssen; 's wird aber bald an Ihnen die Reihe kommen."

      Mit diesen Worten nahm der Mann mit dem weißen Hut wieder seine Arbeit auf und bürstete einen Stulpenstiefel mit erneuter Emsigkeit.

      Abermals ertönte eine Klingel, und die geschäftige alte Wirtin im "Weißen Hirsch" erschien auf der entgegengesetzten Galerie.

      "Sam!" rief sie. "Wo ist denn der faule Schlingel? Sam! Aha, da sind Sie ja. Warum geben Sie denn keine Antwort?"

      "Wäre nich höflich, zu antworten, ehe Sie nich ausgesprochen haben", entgegnete Sam grämlich.

      "Da, putz geschwind diese Schuhe für Nummer siebzehn und bring sie dann in das Zimmer Nummer fünf im ersten Stock." Die Wirtin warf ein Paar Schuhe in den Hof und verschwand.

      "Nummer fünf", sagte Sam, hob die Schuhe auf, nahm ein Stück Kreide aus der Tasche und schrieb das Merkzeichen ihrer Bestimmung auf die Sohlen. "Damenschuhe und ein Extrazimmer? Die is wohl kaum als Frachtgut angekommen."

      "Sie is erst heute morgens gekommen", rief das Mädchen, das noch immer auf dem Galeriegeländer lehnte. "Mit einem Herrn in einer Mietskutsche, demselben, wo jetzt seine Stiefel will. Mach doch schnell, endlich."

      "Warum hast du mir das nich gleich gesagt?" versetzte Sam unwillig und langte die fraglichen Stiefel aus dem übrigen Haufen heraus. "Kann's doch nich riechen, daß sie nich 'nem gewöhnlichen Dreipennyfuchser gehören? Eignes Zimmer und 'ne Dame obendrein! Wenn er so was wie 'n Schenlmän is, wirft er tagsüber 'n Schilling ab, die sonstigen Aufträge noch nich mal Inbegriffen."

      Angespornt durch diese begeisternde Aussicht, bürstete Master Samuel so emsig drauflos, daß in ein paar Minuten Stiefel und Schuhe im Strahlenglanz dastanden, worauf er sich an die Tür von Nummer fünf verfügte und klopfte.

      "Herein!" rief eine männliche Stimme.

      Sam machte seinen besten Kratzfuß, als er einen Herrn und eine Dame beim Frühstück sitzen sah. Nachdem er diensteifrig die Stiefel dem Herrn und die Schuhe der Dame, rechts und links zu Füßen, niedergelegt hatte, zog er sich wieder nach der Tür zurück.

      "Hausknecht.!" sagte der Herr.

      "Sir?" versetzte Sam, die Hand auf der Klinke.

      "Kennen Sie vielleicht – na, wie heißt's doch – Doktors Commons?"

      "Ja, Sir."

      "Wo ist es?"

      "Pauls-Kirchhof, Sir; niederer Bogenweg gegen die Straße raus, 'n Buchladen an die eine, 'n Gasthof an die andre Ecke, und in der Mitte zwei Türsteher als Lizenzangler."

      "Lizenzangler?" fragte der Herr.

      "Lizenzangler. Zwei Kerle mit weißen Schürzen – zückendem Hute, wenn man durchgeht. ,Lizenz, Sir, Lizenz gefällig?' Kurioser Schlag Leute – und ihre Herren auch – Anwälte von Old Bailey, Sir, Irrtum ausgeschlossen."

      "Und was wollen sie denn?" fragte der Herr.

      "Was sie wollen? Sie, Sir! Doch nur! Und das wäre noch nicht das Schlimmste. Setzen alten Herren Dinge in 'n Kopp, wo sie sich in ihrem Leben noch nichts von haben träumen lassen. Mein Vater, Sir, ist 'n Kutscher – war Witwer – ein dicker Mann – ungemein stark. Als seine Frau starb, hinterließ sie ihm vierhundert Fund. Er geht zu den Commons, den Anwalt aufsuchen und sein Geld einstreichen, putzt sich extra aus, Stulpenstiefel, 'n Strauß ins Knopfloch, breitkrempigen Hut auf, grünes Halstuch um, ganz wie 'n Schenlmän. Geht durch den Bogenweg, denkt an nichts, als wie er sein Geld anlegen will – kommt 'n Agent auf ihn zu, greift an die Krempe: ,Lizenz, Sir, Lizenz gefällig?' – ,Was ist das für ein Ding?' fragt mein Vater. ,Lizenz, Sir, Lizenz!' – ,Nu, was soll's mit der Lizenz denn?' fragt mein Vater. ,Heiratslizenz', sagt der Angler. ,Hol mich der Henker, wenn mir so was einfällt', sagt mein Vater. ,Ich denke, Sie könnten eine brauchen', sagt der Agent. Mein Vater macht halt und besinnt sich ein bißchen. ,Nö', sagt er, ,gehen Sie zum Kuckuck, ich bin zu alt und noch obendrein viel zu dick zu.' – ,1 wo denn, Sir', sagt der Agent, ,wir haben erst letzten Montag 'n Herrn verheiratet, wo zweimal so dick war wie Sie.' – ,Ist das auch wirklich wahr?' fragt mein Vater. ,Ganz bestimmt', sagt der Agent. ,Sie sind 'n Totengerippe gegen ihm; nur hier rein, Sir, hier rein!' Und mein Vater läuft ihm richtig nach, wie 'n zahmer Affe 'nem Leierkasten, in eine kleine Schreibstube, wo 'n Kerl unter schmutzigem Papier und Blechbüchsen sitzt und so tut, als war er mächtig beschäftigt. ,Bitte, nöhmen Sü Platz, während ich der Urkunde ausfertigen tue, Sir', sagt der Advokat. ,Danke, Sir', sagt mein Vater, setzt sich, reißt die Augen auf und stiert die Namen auf den Büchsen an. ,Wie ist Ihr Name?' fragt der Advokat. ,Tony Weller', sagt mein Vater. ,Kirchspiel?' fragt der Advokat. ,Belle Savage', sagt mein Vater – denn da pflegte er sein Fuhrwerk einzustellen. Was das mit einem Kirchspiel sollte, wußte er nich. ,Der Name von die Frauensperson?' fragt der Advokat. Mein Vater ist wie aus den Wolken gefallen. ,Hol mich der Henker, wenn ich's weiß', sagt er. >Wie, Sie wissen's nicht?' sagt der Advokat. ,So wenig wie Sie', sagt mein Vater. ,Kann man ihn nich nachher reinschreiben?' – .Unmöglich', sagte der Advokat.– ,Auch recht', sagt mein Vater, ,so schreiben Sie Mrs. Clarke.' – ,Was für 'ne Clarke', fragt der Advokat und tunkt seine Feder in die Tinte. – ,Susanna Clarke im Markis von Granby zu Dorting', sagt mein Vater, ,sie wird mich schon nehmen, wenn ich ihr drum ersuche; hab zwar noch nichts davon gesagt, aber ich weiß, sie nimmt mir.' Die Lizenz wird also ausgestellt, und sie nimmt ihn. Und was noch mehr ist: sie hat ihn jetzt und ich hab von die vierhundert Fund nich 'n einziges zu sehen gekriegt. Ich bitte um Verzeihung, Sir", fügte Sam zum Schluß hinzu, "aber wenn ich auf diese verdrießliche Geschichte komme, da geht's bei mir fort wie bei 'nem frischgeschmierten Karren."

      Sam harrte noch einen Augenblick, ob nichts Weiteres gewünscht werde, und verließ, als dies nicht der Fall war, das Zimmer.

      "Halb zehn – gerade die rechte Zeit; brechen wir auf", sagte der Gentleman, der selbstverständlich Mr. Jingle war. "Zeit – wofür?" fragte die alte Jungfer kokett. "Lizenz, teuerster Engel – Meldezettel für den Geistlichen – dich mein nennen – morgen", erklärte Mr. Jingle und drückte der Jungfrau die Hand.

      "Die Lizenz! Ach!" sagte Rachel errötend. "Die Lizenz", wiederholte Mr. Jingle. "Die Türen auf, die Fenster auf, geschwinde, geschwinde."

      "Ach, wie du es eilig hast", flüsterte Miß Rachel verschämt.

      "Eilig? – Stunden – Tage – Wochen – Monate – Jahre sind nichts, wenn wir vereint sind. – Können dann kommen – mit Wagen – Eisenbahn – tausend Pferdekraft meinetwegen – läßt uns kalt."

      "Könnten – könnten wir nicht heute schon getraut werden?" fragte Rachel.

      "Unmöglich – kann nicht sein – Meldung an den Geistlichen – Lizenz heute – Trauung morgen."

      "Ich fürchte so, mein Bruder wird uns auffinden", sagte Rachel.

      "Auffinden? – Blech – viel zuviel durchgeschüttelt vom Wagensturz. – Übrigens außerordentliche Vorsicht – Postwagen aufgegeben – zu Fuß gegangen – Mietkutsche genommen – hier im Borough – letzter Platz in