Roland Kaltenegger

Gefangen im russischen Winter


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Lanz wurde während eines Gefechtes durch ein Geschoss an der rechten Schulter verletzt. Das Schloss Oleszyce wurde nach der Eroberung zum Verbandsplatz.

      Wer bei der Kampftruppe verwundet wurde, für den war der bittere Kelch jedoch noch lange nicht geleert. Denn aus dem Inferno der Bomben und Granaten kam man meistens genauso wenig heraus wie aus einer eingeschlossenen Stellung. Die Sowjets scherten sich wenig um die wehenden Fahnen des Roten Kreuzes. Sie schleuderten ihre tödlichen Geschosse und Maschinen-Gewehr-Garben auch dorthin.

      Nachdem ein Treffer schon in der Sammelstelle der Verwundeten eingeschlagen war, traf kurz darauf ein Treffer den Verbandsplatz. Dort lagen die langen Reihen der Verwundeten. Und immer neue wurden von den unermüdlichen Sanitätern herantransportiert. Schüsse – Granatsplitter – verdreckte Verbände – verkrustetes Blut. Auf dem Hof, auf den Treppen des Schlosses und in den Gängen lagen und hockten Schwerverwundete unter Ächzen und Stöhnen; schwach und apathisch. Draußen krachte es immer wieder. Das Kampfgetümmel umbrandete den Lazarettplatz. Wenn die Sowjets allzu nahe an die Schlossmauern heranrückten, standen die Sanitäter mit Gewehren und Pistolen hinter den Fenstern, um sich den Gegner vom Leib zu halten.

      Am Nachmittag […] wurde der Park nochmals zu einem heißen Feuerherd, erinnerte sich Hegele. Es schien, als seien die Roten, die wir schon zweimal ins Jenseits geschickt hatten, alle wieder lebendig geworden. Von Baumwipfeln, aus Sträuchern und Hecken, aus allen Kellerlöchern kommt der Feuerüberfall auf die Verwundeten, Sanitäter und Ärzte. […] Es wird abends, ehe der Kampf hier zu Ende geht; und erst unter Einsatz von Flammenwerfern wurde der letzte Widerstand ausgeräuchert.38

      Während in Oleszyce der Kampf den ganzen Tag über immer wieder aufflammte, setzte der Stab des XXXXIX. Gebirgs-Armeekorps am frühen Nachmittag über den San und richtete in Krakowiez einen neuen Gefechtsstand mit Unterkunft ein. Unterdessen stießen die beiden Gebirgs-Jäger-Regimenter der »Ersten« am Ort vorbei weiter nach Osten, in Richtung Lemberg, ihrem ersten großen Angriffsziel, vor. Die nächste Zwischenstation der »Edelweiß«-Division war der Lubaczowka-Flussabschnitt, der rund 13 Kilometer entfernt lag. Zügig griffen die Gebirgsjäger an und erreichten gegen 19 Uhr das befohlene Ziel.

      Die Führung hat wieder Oblt. von Hirschfeld, berichtete Hegele. Auftrag des Stoßtrupps ist: die Brücke über die Lubaczowka bei Lizczutho im Handstreich zu nehmen. Wir fahren gleich los, müssen durch den Wald. Alles schaut scharf links und rechts, aber kein Russe ist zu sehen. Am jenseitigen Rand des Gehölzes wird gehalten. Geschütz 1 und 3 werden abgeprotzt, und wir zwei Bedienungen bleiben hier. Nur Geschütz 2 und alle unsere Fahrzeuge mit den beiden Jägergruppen fahren los. […] Unsere Ar[t]i[llerie] und Granatwerfer beschießen inzwischen heftig das Dorf. Bange Minuten vergehen; sie werden zu Ewigkeiten. Endlich die rote Leuchtkugel, das Zeichen für unsere Artillerie und Granatwerfer, das Feuer einzustellen. Der Stoßtrupp ist nahe am Ziel. Wir hören MG- und MP-Feuer und das Rumsen der Handgranaten, dann das erlösende Zeichen der weißen Leuchtkugel: Die Brücke ist genommen.39

      Am Abend des ersten Angriffstages fasste Major Steets als 1. Generalstabsoffizier der 1. Gebirgs-Division seine Tagesmeldung an das XXXXIX. Gebirgs-Armeekorps zusammen: »Der Tag war ungewöhnlich schwer. Die Division verlor allein 18 Offiziere. Die Truppe, in 16-stündigem, heißem, wechselvollem Kampf stark angestrengt, stellte sich schnell auf die ungewohnte und hinterhältige Kampfweise des Feindes ein. Gefangene wurden wenig gemacht. Umso größer waren die Verluste des Feindes, Gefangenenaussagen ergaben, dass Teile der Grenztruppen und der 97. russischen Schützendivision vernichtet wurden.«

      Und im Kriegstagebuch der 1. Gebirgs-Division lesen wir: »Der erste Gefechtstag im ersten Operationsabschnitt des Ostfeldzuges war der schwerste und blutigste Kampftag der Division.«

      Der Russlandfeldzug hatte blutig begonnen. Die Deutschen wussten in jenen Sommertagen des Kriegsjahres 1941 allerdings noch nicht, wie lange er dauern würde. Aber sie ahnten, dass er alles andere als ein »Blitzkrieg« werden würde. Darauf deuteten bereits die ersten Kampfhandlungen hin, die die Landser nachdenklich stimmten. Denn die Siege im Feldzug gegen die Sowjetunion mussten von Anfang an unter weit größeren und blutigeren Opfern erkämpft werden als die in Polen oder Norwegen, in Frankreich oder auf dem Balkan, weil die Sowjets sich verbissen zum Kampf stellten. In ihrem heftigen Abwehrfeuer konnte die Deutsche Wehrmacht nur langsam an Boden gewinnen.

      Der erste Kampftag im Russlandfeldzug ist vorbei, notierte Hegele in seinem Tagebuch. Er war hart, mehr als hart. Nun wissen wir mehr als gestern Abend. Wird das hier immer so weitergehen? Viele unserer Kameraden sind nun schon zugedeckt vom heißen polnischen Boden. Vom Regiment hat das II. Bataillon am meisten bluten müssen. […] Lange kann ich nicht einschlafen: Zu stark hängen die Gedanken am heutigen Tag, besonders am Grauen vom Schlosspark Oleszyce. Und nun liegt feierliche Stille über dem Schlachtfeld an der Grenze. Oben am wolkenlosen Nachthimmel die Millionenpracht der Sterne, auf der Erde die weißen Leuchtkugeln der Deutschen und die roten der Russen; sie bilden den »Zauber der Nacht«. Und morgen?40

      Die nächsten Tage brachten die große Panzerschlacht bei Jazow Stary, einem unscheinbar wirkenden Ort ohne besondere Sehenswürdigkeiten beiderseits der großen Nord-Süd-Straße von Jaworow nach Niemirow. Vorsorglich hatte der 1. Generalstabsoffizier der 1. Gebirgs-Division Befehle für die erhöhte Panzerabwehrbereitschaft herausgegeben. Die Panzerabwehrwaffen der Stammdivision der deutschen Gebirgstruppe bestanden aus vier 5-cm- und 54 kleinen 3,7-cm-Panzerabwehr-Geschützen. Unser Chronist Hegele war mitten in diesem Kampfgeschehen und beschrieb die Ereignisse des 23. Juni 1941:

       Heftig wurde ich an den Beinen gerüttelt. »Was ist?«

      »Alles auf, Stellungswechsel!«, weckt uns der Posten.

      »Ja, Blumendraht, jetzt mitten in der Nacht? Was ist denn los?« – Befehl vom Zugführer: 3. Zug macht Stellungswechsel 8 km nach links. Werden dort der P 44 (Panzerjäger-Abteilung) zugeteilt, um sie zu verstärken, da für deren Bereich starke russische Panzerkräfte gemeldet sind.

      Es ist 1 Uhr nachts. […] Eine Sau-Fahrerei ist dieser Stellungswechsel durch unbekanntes und größtenteils versumpftes Gelände, so dass immer wieder ein Wagen stecken bleibt und seine Räder im nassen Grund durchdrehen. Doch heil und ohne Verirrung bringt uns der Zugführer Lt. Hahn, der für seine Spürnase bekannt ist, an das Ziel. Dort wird uns gleich unser neuer Stellungsbereich zugewiesen, und wir beginnen sofort mit dem Einschanzen und Tarnen des Geschützes. Während dieser Arbeit wird der graue Streifen am östlichen Himmel immer heller, und als wir mit dem Schanzen fertig sind, ist es fast Tag.

      Ein Anblick von seltener so deutlicher Dramatik bietet sich bei näherem Umsehen: In dem Wiesengelände, das 2 km breit sein mag und links und rechts von Wald flankiert ist, sind nicht weniger als 27 Pakgeschütze in V-Form in Stellung, 2 Kompanien der P 44 und unser Zug. Da mögen die russischen Panzer nur kommen, hier würde ihnen ein heißer Empfang bereitet werden.41

      Am 23. Juni 1941, es war ein Montag, um 6 Uhr morgens, traten die Gebirgssoldaten auf breiter Front erneut zum Angriff an. Äußerst hart waren die Gefechte. Bei den teilweise alles andere als Menschen schonenden Kampfhandlungen des Gebirgs-Jäger-Bataillons Fleischmann auf der Höhe 235, dicht vor dem sowjetischen Stützpunkt Nabaczow, fielen auf deutscher Seite allein vier von fünf Kompaniechefs. Trotz der massiven Gegenwehr und der empfindlichen Verluste erreichten die »Blumenteufel« bis zum Mittag das befohlene Tagesziel.

      Es wird heute nochmals angegriffen. Um 18 Uhr kommt der Befehl zum Stellungswechsel, und unser Zug haut gleich ab, protokollierte der Gefreite Hegele. Wir verlieren aber bald den Anschluss, und auf einmal ist unser Zug allein auf weiter Flur. Nacht wird es, und plötzlich endet unsere Fahrt fast buchstäblich im Wasser. Es ist eine Insel mitten im Sumpf von Drchomysl, gerade groß genug, um unseren sieben Autos mit Geschützen und den paar Krädern Platz zu bieten. Keine ideale Gegend für einen Sommernachtstraum, aber immerhin wissen wir, dass hier kein feindlicher Überfall zu befürchten ist, zumal sehr starker Nebel herrscht.42

      An jenem 23. Juni 1941, an dem die 99. leichte Infanterie-Division noch als Reserve der Heeresgruppe Süd in ihren Bereitstellungsräumen lag und auf die Feuerprobe wartete, veröffentlichte die »Neue Zürcher