Roland Kaltenegger

Gefangen im russischen Winter


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Bewegungen größeren Ausmaßes noch nicht festzustellen sind, besteht die Möglichkeit, dass der Gegner nach Überwindung der ersten Überraschung sich – besonders vor [der] H[eeresgruppe] Süd – zum Kampf zu stellen beabsichtigt. Ein Urteil hierüber wird sich jedoch frühestens am 23. 6., nach Eintreffen genauerer Aufklärungsergebnisse bilden lassen.32

      Als die Deutsche Wehrmacht ihren Angriff auf die UdSSR begann, hatte sie zweifellos das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Noch am Morgen des 22. Juni 1941 erklärte Josef Stalin in seiner Sommerresidenz am Schwarzen Meer, dass dieser Angriff »möglicherweise nur eine provokatorische Handlung einiger deutscher Generale sei«.33

      Der sowjetische Marschall A. J. Jeremenko schrieb in seinen Memoiren: »Der Überfall auf unsere Grenzbezirke kam völlig überraschend. Wenn mir, dem damaligen Armeebefehlshaber, fast nichts vom Herannahen des Krieges bekannt war, wie überraschend musste dieser Angriff für die jüngeren und mittleren Kommandostellen, für die Soldaten und das ganze sowjetische Volk gekommen sein. Diese Unterlassungen lagen begründet in der Überschätzung unserer Kraft und in der Annahme unserer obersten Führung, die Deutschen würden es nicht wagen, uns anzugreifen. Bei richtiger Führung hätte den Angreifern sofort und wirksam Widerstand geleistet werden können!«34

      Doch zunächst kam alles ganz anders. Lautlos und schemenhaft bewegten sich im Morgengrauen die Angriffs-Bataillone aus ihren Bereitstellungsräumen und drangen gegen den sowjetischen Grenzzaun vor. Das Gebirgs-Jäger-Regiment 99 hatte die Höhe 273 und Oleszyce Stary zum Ziel, das Gebirgs-Jäger-Regiment 98 die Kuppe 242 und den Ostteil des Ortes.

      Zunächst hielt nichts den Sturmlauf des XXXXIX. Gebirgs-Armeekorps auf, das Überraschungsmoment kam ihm zugute: »Die Russen wurden zum Teil in ihren Unterkünften aufgescheucht; ihre Führung stand den Angriffen vielfach hilflos gegenüber, aber die Truppe erholte sich bald von dem erlittenen Schock und leistete örtlich zähen Widerstand.«35

      Auf dem rechten Flügel der 1. Gebirgs-Division, wo das Gebirgs-Jäger-Regiment 99 auf eine starke sowjetische Stellung am Forsthaus auf der Höhe 273 gestoßen war, zerriss gezieltes Feuer die Stille der Nacht. Der Gefreite Hegele berichtet auch über die ersten Angriffsaktionen:

      Gerade als wir uns mit unserem Geschütz durch den Draht zwängen, braust eine Staffel Bomber […] daher, und das Gedröhn ihrer Motoren gibt erst so richtig den Auftakt zum Kampf. Die ersten Granaten unserer Artillerie heulen über uns; sie schießt auf schon längst ausgemachte Ziele. Unser Stoßtrupp kommt sehr zügig vorwärts, Gegenwehr ist überhaupt keine da – es ist ganz unheimlich; irgendetwas stimmt da nicht.

      Wir mit unserem 8-Zentimeter-Geschütz haben sehr schwere Arbeit, mit den Jägern Tuchfühlung zu halten, es geht ja alles querfeldein. Und dann ist da noch ein Acker, frisch gepflügt von den Russen, zur besseren Kontrolle der Grenze. Wie die Bären schwitzen wir, und die Zunge hängt bald an die Knie runter, als wir endlich wieder die Straße erreichen. Dort können wir, Gott sei Dank, an eine Zugmaschine unserer 2-Zentimeter Flak anhängen. Von unserem Stoßtrupp sehen wir nichts mehr. Die Brücke unseres Auftrages haben die Jäger heil in ihre Hand gebracht und sind dann gleich weitermarschiert. Inzwischen ist auch das Regiment zum Angriff angetreten. An einer Straßenkreuzung in Uszkowca gehen wir mit unserem Geschütz in Stellung und sichern nach Süden.

      Aus Hegeles Aufzeichnungen wird aber auch erschreckend deutlich, wie sehr die nationalsozialistische Herrenmenschen- und Rassenideologie bereits die Wahrnehmung einfacher Soldaten bestimmte und Regungen menschlichen Mitleids gegenüber der russischen Zivilbevölkerung wie gegenüber dem militärischen Gegner im Keim erstickte und der Enthumanisierung Vorschub leistete. Die NS-Stereotypen vom angeblich rassisch minderwertigen »Untermenschen« und von »fremdvölkischen asiatischen Horden« im Osten prägten auch die Wahrnehmung des Gefreiten:

      Ein paar Häuser brennen von den Treffern unserer Artillerie. Weinende Frauen und Kinder laufen sinnlos umher, allerlei Haushaltungsgerät unter dem Arm. Was sie nur wollen; für sie ist der Spuk des Krieges doch schon vorbei, ehe er richtig begann. Von vorne kommen etliche Jäger mit den ersten gefangenen Russen. Zutiefst erschrocken ist mein Herz – den anderen Kameraden erging es genauso – beim Anblick dieser fremden Menschen. Sind das überhaupt noch Menschen? Nein, bestimmt nicht, so schauen nur gefährliche Tiere aus. Kleine, gedrungene Gestalten sind in Uniformen gezwängt. Auf den nur tierhaft zu nennenden Köpfen sitzen grüne Schirmmützen. Die Gesichter sind zwei riesige Backenknochen, ein breit gezogener Mund mit wulstigen Lippen. Die Nase ist platt gedrückt und die Augen, mein Gott, diese Augen, es sind nur ein paar Schlitze, aber aus ihnen blitzt uns unversöhnlicher Hass und Todfeindschaft entgegen. Es sind Mongolen, wie wir sie bisher nur von Bildern her kannten.36

      Der Krieg hatte in jeder Beziehung begonnen, der theoretisch-ideologischen Radikalisierung des Nationalsozialismus folgte nun zum Teil die kriegerische Praxis.

      General Lanz führte seine Division in vorderster Linie. Nun hatten sich die Soldaten in den ersten schweren Grenzkämpfen in Galizien zu bewähren. Von Uskowce brausten die Panzerjäger zur Unterstützung der Gebirgs-Jäger-Bataillone heran.

      Der Gefreite Hegele notierte:

       Inzwischen sind ja unsere Autos nachgekommen. Schnell noch ein paar Munitionskästen zugeladen, einen Kasten Sprenggranaten lege ich mir gleich auf das Trittbrett, um ihn sofort zur Hand zu haben, und stelle mich darauf. Stellungswechsel – auf – marsch! Und los geht die brausende Fahrt, hinein nach Oleszyce. Schon zischen die ersten Kugeln um die Köpfe; man hört sie kaum im Brummen des Motors. Brennende Häuser, eingestürzte Giebel, herabhängende Drähte und viele tote Jäger und Pioniere; das ist der erste Anblick. Aber man hat wirklich nicht viel Zeit zum Schauen. Die Garbe eines russischen MGs hat uns gefasst, dass der Wagen nur so scheppert. Max, unser Fahrer, gibt Vollgas, und mit Vollgas rasen wir in die Kurve, dass mir die Wucht gleich meinen Munitionskasten unter den Füßen rausreißt, der in hohem Bogen in den Straßengraben fliegt – lass ihn liegen, wir haben jetzt keine Zeit dafür. Jochen, unser Melder, führt uns zu einem großen Gebäudekomplex, der von Bäumen und Sträuchern fast ganz verdeckt ist, dem Schloss mit Park von Oleszyce. Wir kommen in den toten Winkel der Schlossmauer und haben so ein paar Minuten zum Verschnaufen und Orientieren. Und da ist ja auch schon der Zugführer und Zugtrupp mit Zugs-MG. Und plötzlich ist der Krieg hier wie ausgestorben. Kein Geschieße und Krachen mehr, nur nebenan fällt eine brennende riesige Scheune prasselnd zusammen. Das Geschützt geht gleich in Stellung an der Südpforte der Schlossmauer. Neben uns liegen zwei deutsche Sturmgeschütze halb umgekippt. Sie wollten hier bei diesem Eingang in den Schlosspark; der war aber zu schmal, und bei dem folgenden Wendemanöver hatten sie einander gerammt. […] Ganz gemütlich sitzen wir auf den Geschützholmen und kauen unser Butterbrot, da schlägt uns urplötzlich wahnsinniges Feuer entgegen. Es kracht und scheppert an allen Ecken. […] Schnell springen wir wieder in den toten Winkel der Schlossmauer und ducken uns nieder vor dem heiß heranschlagenden Feuer. Hinter jedem Strauch, von jedem der vielen Baumwipfel, aus jeder nur möglichen Lage zischt uns das heiße Blei entgegen. Kaum sind die Verwundeten des ersten Kampfes geborgen, so geht’s schon wieder an. »Sanitäter – Sanitäter!« Ein großes Durcheinander erzeugt dieser plötzliche russische Überfall. Eben geht ein langes Wirtschaftsgebäude in Flammen auf, und das Feuer prasselt wild in den allgemeinen Kampflärm. Mit unserem Geschütz können wir hier in diesem unübersichtlichen Park nichts anfangen, müssen also mit Nahkampfwaffen diesem Widerstandsnest zu Leibe rücken. 50 m weiter oben werfen die Pioniere gerade dutzendweise Handgranaten in den Park. Auch wir schließen uns mit den Handgranaten an. Wie das scheppert und rumst. Aber der Russe gibt nicht nach. Flammenwerfer müsste man haben, um den Park auszuräuchern. Also wieder Handgranaten. Und auf einmal ist Stille im Park. Sind die Roten schon erledigt? »Wir stürmen jetzt den Park!,« befiehlt der Zugführer. […]

      Mit »Fertig – los« stürmen wir, zehn Mann stark, zum Tor hinein und schwärmen gleich auseinander. Der Zugtruppführer, Fw. Wegscheider, schreit gleich in den ersten Sekunden auf und fällt dem Wachinger, der gleich hinter ihm läuft, in die Arme, dass es ihn fast umreißt. […] Im Nu ist der Nahkampf in seiner unerbittlichen Härte entbrannt, wobei kurzer Spaten, Handgranaten und Pistolen die Hauptrolle spielen. […] Stille, Grabesstille ist auf einmal – kein lebender erdbrauner