Franz Taut

Roter Stern am Schwarzen Meer


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und drüben offen in der Landschaft. Alles Leben in der Hauptkampflinie bewegte sich in mannstiefen Laufgräben, von denen Sappen abzweigten, an denen die Bunker angelegt waren. Auch meine Behausung sowie der Unterstand des Kompanietrupps und der Sanitätsbunker lagen an einem solchen Stichgraben.

      Zur vordersten Linie waren es kaum mehr als fünfzig Meter. Normalerweise war die Entfernung in Sekunden zu bewältigen. Wenn jedoch die russische Artillerie trommelte, dehnte sich die kurze Strecke ins Endlose. Einmal, zu Beginn eines Überraschungsangriffs, hatte ich eine halbe Stunde gebraucht, bis ich von meinem Bunker in den Kampfgraben gekommen war.

      Obwohl der Laufgraben so tief war, dass nicht einmal Feldwebel Suhrmann darüber hinwegschauen konnte, bewegten wir uns geduckt wie Indianer auf dem Kriegspfad. Leutnant Lemke war hinter mir. Als Letzter folgte Suhrmann, auch er mit dem Geländehut, der für seinen großen Kopf zu klein war und draufsaß wie ein Karnevalshütchen.

      Ich erklärte Lemke die Gegend: »Wenn Sie den Kopf ’rausstrecken, sehen Sie eine Art Mondlandschaft – Krater an Krater. Auch vorn vor der Stellung hat der Iwan, wie Sie gleich sehen werden, ein Trichterfeld geschossen, das sich wie ein Sturzacker mit Leichenteilen ausnimmt. Nacht für Nacht müssen unsere Pioniere den Draht neu aufrichten, denn auch das Drahthindernis trommelt er in den Dreck. Augenblicklich scheint er es auf uns abgesehen zu haben. Seitdem ihn die 97er Jäger von der Höhe 114,1 wieder ’runtergeboxt haben, versucht er es bei uns. Sie werden bewegte Zeiten vor sich haben, Herr Lemke.«

      »Schade«, sagte der Leutnant aus Stalingrad, »und ich dachte, ich käme in eine Sommerfrische. Vielleicht ist das Beste, ich gebe den Russen eins auf die Nase, damit sie sich einen anderen Abschnitt aussuchen.«

      »Und wie denken Sie sich das?«, fragte ich belustigt.

      »Kleiner Spaziergang hinüber«, sagte er. »Vielleicht mal nachts, wenn ein Wölkchen vor dem Mond schwimmt.«

      »Wir haben jetzt Neumond«, warf ich ein.

      »Umso besser«, sagte er mit jener Gelassenheit im Tonfall, die nur diejenigen zustande brachten, die hundertfach abgebrüht waren und längst das Fürchten verlernt hatten. Ich konnte ihn mir vorstellen, wie er sich im Frost jenes verdammten Januars zwischen den Trümmern bewegte, die von Stalingrad übriggeblieben waren. MG-Feuer mochte für ihn nicht mehr als ein Platzregen sein. Wäre er nicht in der Geisterstadt auf eine Mine getappt, würde er sicherlich zu denen gehört haben, die sich dann am Schluss doch noch durchgeschlagen hatten – kleine, verlorene Trupps armseliger Gestalten, die sich mit der Verbissenheit versprengter Wölfe den Weg aus dem Massengrab an der Wolga ins Leben gebahnt hatten.

      Wir suchten an den Abzweigungen die Mannschaftsbunker auf, in denen die Männer meiner Kompanie – insgesamt drei schwache Züge nebst einem Granatwerfer- und einem SMG-Trupp – auf ihrem Strohlager dösten. Sie standen auf, als wir eintraten. Lemke gab jedem Einzelnen die Hand. Sie musterten ihn mit kalten, prüfenden Blicken. Seine entstellende Verwundung schien sie weder zu stören noch zu beeindrucken. Wichtig war für sie nur, ob er den Ansprüchen genügte, die sie an einen Kompanieführer stellten. Sie waren hart, zynisch und ohne jede Spur von Sentimentalität. Der Begriff Kameradschaft war nur noch bedingt auf das Zusammengehörigkeitsgefühl anwendbar, das sie wie eine eiserne Klammer verband. Ein jeder wusste, dass der Einzelne nichts war, dass sie den verdammten Krieg nicht überleben konnten, wenn sie nicht zusammenhielten. Von den Vorgesetzten, die es im ursprünglichen Sinne gar nicht mehr waren, erwarteten sie, dass sie stets im richtigen Augenblick die einzig mögliche Entscheidung trafen. Ihre Illusionen, die ihnen vielleicht einmal vorgeschwebt haben mochten, waren in den rauen Stürmen des Ostens erloschen wie Kerzenflammen, die noch eine Zeit lang flackern, bis ein allzu heftiger Windstoß sie ausbläst. Sie glaubten nicht mehr an die verschwommenen Ideale, die ihnen in langen Jahren eingetrichtert worden waren. Ihr neues Evangelium war die Feuerkraft des MG 42. Ein schwerer, verlustreicher Rückzug lag hinter ihnen, der Rückzug aus dem westlichen Kaukasus. Und nun hatten sie einen überlegenen Feind vor sich, der alles daransetzte, Malaja Ssemlja – die Kleine Erde, wie die Russen den Kubanbrückenkopf nannten – einzudrücken. Im Rücken aber war ein Streifen Meerwasser – die Straße von Kertsch.

      Leutnant Lemke fand zu meiner Genugtuung sofort Kontakt zu den rauen, oftmals bockigen, verschlossenen Landsern. Als wir dem Kampfgraben zustrebten, sagte er: »Ein brauchbarer Verein. Ich seh’ schon, mit diesen Burschen kann man den Teufel tanzen lassen.«

      Die Prüfung war also von beiden Seiten vorgenommen worden. Ich war zufrieden. Lemkes günstiges Urteil bedeutete, dass er sich schon jetzt nicht mehr als Fremder fühlte.

      Der Graben, der sich auf der Höhenrippe hinzog, war tief, aber so schmal, dass jeweils nur ein Mann darin Platz hatte. Selbst bei schwerstem Artillerie- und Granatwerferfeuer bot er ausreichenden Splitterschutz, und gegen Volltreffer war ohnehin kein Kraut gewachsen. An der vorderen Grabenwand waren in kurzen Abständen Stufen in den steinigen Boden geschachtet, die den Posten als Podest dienten und im Gefecht die sonst üblichen hölzernen Sturmleitern ersetzten. Zehn leichte MGs, das SMG und der schwere Granatwerfer waren eingebaut.

      Die Posten beobachteten aufmerksam den von Granateinschlägen zerwühlten, leicht abfallenden Hang, der keine Spur von Gras mehr aufwies. Der Hang war bis hinunter zur Niederung Niemandsland. Tote Rotarmisten verwesten in der Sommersonne. Am Saum der Ebene, die sich weit bis zum Kuban und darüber hinaus hinzog, erstreckte sich ein Wäldchen, in dem sich der Gegner oftmals nachts bereitstellte, bevor er im Morgengrauen den Hügel heraufkam. Das Städtchen Krymskaja, in dem im späteren Frühjahr mörderische Kämpfe getobt hatten, war durch einen Vorsprung des Höhenzuges verdeckt.

      Der Nachmittag war föhnig klar. Der Himmel, an dem vereinzelte linsenförmige weiße Wolken segelten, leuchtete türkisblau im Sonnenlicht. Ich stieg zu dem Posten hinauf, der am Scherenfernrohr stand. Er überließ mir seinen Platz. Die Straße, die hinter dem Wäldchen hervorkam, zog sich unter einem Staubschleier nach Norden. Der Staub allein bestätigte die Wahrnehmungen, die Feldwebel Suhrmann gemeldet hatte. Welche Frechheit, am hellen Tag vor unseren Augen die Straße zu benützen! Der Nachrichtendienst des Feindes arbeitete verteufelt gut. Die drüben wussten genau, dass unsere Artillerie erst dann Schießerlaubnis erhielt, wenn der Ofen schon beinahe ausgegangen war.

      Ich stellte die Gläser etwas höher ein. Im öden graugrünen Brachland der Niederung, das kaum Wald und nur stellenweise kärgliche Büsche trug, sah man einen hellen Streifen, auf dem sich graue Gestalten mit marionettenhafter Betriebsamkeit bewegten. Sie karrten Steine, ebneten sie ein, schleppten Walzen und schwangen Schaufeln und Pickel. Man hörte förmlich das »Dawai! Dawai!«, mit dem die russischen Posten die Gefangenen antrieben, die im Widerspruch zum geltenden Völkerrecht in der Kampfzone eine Straße für Kriegszwecke bauen mussten. Aber was war in diesem Krieg schon noch »Recht«?

      Ich trat zurück und winkte Leutnant Lemke an die Schere. »Dort drüben sind sie«, sagte ich. »Es dürften ein paar hundert Mann sein.«

      Leutnant Lemke stieg hinauf, spähte eine Zeit lang durchs Scherenfernrohr, wie um sich den Anblick der gefangenen Landser für immer einzuprägen, und beobachtete dann mit bloßem Auge das Vorgelände. In einer Tiefe von etwa zehn Metern war es mit einem unentwirrbaren Geschling von Stacheldraht gesichert. Aber auch das war kaum mehr als eine Illusion. Wenn die Russen zu trommeln begannen, rissen die Granaten breite Breschen in das Drahthindernis.

      Schweigend kam Leutnant Lemke herunter auf die Grabensohle, und der Posten nahm wieder seinen Beobachtungsplatz ein. Wir kehrten zum Gefechtsstand zurück. Feldwebel Suhrmann begab sich zum Kompanietrupp, wo gerade der Fernsprecher läutete.

      »Das Bataillon«, sagte Suhrmann, indem er mir, als ich hinzukam, den Handapparat reichte. Am anderen Ende der Leitung war Leutnant Stapf, der Adjutant.

      »Wie sieht’s bei Ihnen aus?«, fragte er.

      »Mittelkomisch«, antwortete ich. »Bin gerade mit Leutnant Lemke durch die Stellung gegangen. Aber akut braut sich da wohl nichts zusammen.«

      »Dann können Sie ja übergeben«, meinte Stapf. »Die Division hat schon wieder nach Ihnen gefragt. Wenn Sie jetzt losmarschieren, sind Sie in ’ner Stunde bei uns.«

      »Herr Stapf«, warf ich ein,