die unteren Decks längst mit Wasser gefüllt sind und die Matrosen durchnässt, heiser vom Schreien, entkräftet, gegen den Sturm kämpfen, da fällt mir plötzlich wieder ein, dass auch in Tattoofarben Schellack ist, dass der Instrumentenbauer davon erzählt hat, als jemand ein Problem damit hatte, den Lack aufzutragen, weil bei der Herstellung vielleicht auch einige Läuse gestorben seien, Lauslarven eigentlich, noch nicht einmal geschlüpft, aus Versehen mit den leeren Kokons von den Zweigen abgestreift, niemand könne alle Kokons überprüfen, und da hat er gesagt, was meinen Sie, was in Ihrer Tattoofarbe drinnen ist, und so still war es plötzlich im Raum, weil wahrscheinlich jeder gedacht hat, dass man ein Tattoo nicht ausspucken kann wie ein Stück Wurst.
Ich werde nichts sagen, obwohl Mark Wurst isst, nur eben keinen Fisch und keine Kohlsprossen, wegen der Maden.
Ina benötigt eine Stunde für den Rundgang, wenn sie sich beeilt. Von 6.00 bis 7.00, von 12.00 bis 13.00, von 18.00 bis 19.00 und einmal um Mitternacht. Das Logbuch liegt aufgeschlagen auf dem Tisch, die Eintragungen bleiben seit Wochen dieselben, sie schreibt in ihrer schönsten Schrift.
Eine schöne Schrift sei das Wichtigste, hat Boris gesagt, und ein gutes Auge.
Ein gutes Auge wofür?
Rauchsäulen, Vorkommnisse.
Sie hält nach Rauchsäulen Ausschau, nach Vorkommnissen. Klettert auf den ersten Wachturm, blickt von oben in alle Himmelsrichtungen: Wald, Wald, Gelände, Wald.
Sie geht über den verbrannten Flecken Erde, am verkohlten Gerüst vorbei, klettert auf den zweiten Wachturm. Sieht Wald, Gelände, Wald, Wald. Verweilt. Lässt den Blick über die Werkshalle schweifen, über die Wohnbaracke, die beiden Schuppen. Über den zu Rollen gewickelten Stacheldraht.
Keine Rauchsäulen, keine Vorkommnisse, kein Regen, kein Wind.
Sie geht durch knisternden, braunen Farn auf die dichten Baumreihen zu. Brombeerranken zerren an der Hose, trockene Äste knacken bei jedem ihrer Schritte, zwischen den Schritten lauscht sie in den Wald hinein. Bleibt stehen. Spitzt die Ohren. Geht weiter bis zum Eingang des verfallenen Stollens. Öffnet die schwere Abdeckung, schaltet die Taschenlampe ein: Bretter, Steine, gelblicher Lehm, ein Haufen aus morschen Balken, verbogene Reste einer kurzen Leiter aus Metall. Zwanzig Schritte kann sie machen, höchstens, die Leiter steckt in verrutschter Erde, da, wo einmal ein Loch in die Tiefe geführt haben muss. Auch hier: Keine Vorkommnisse. Kein Wassereintritt. Nichts.
Dann die beiden Schuppen, einer leer, der andere gefüllt mit Fässern, Kanistern und altem Gerät. Alles an seinem Platz. Keine Auffälligkeiten, keine Änderung.
Nur das Tor bereitet ihr Sorge, die Kette ist lose um die Streben gewickelt, es gibt kein Schloss, es hat noch nie eines gegeben. Es sieht nicht so aus, als sei die Kette bewegt worden, doch Beweis hat sie keinen. Die Schneise, die vom Gelände wegführt, ist kaum noch zu erkennen, Strauchwerk und Gestrüpp neigen sich dem schmalen, gerodeten Streifen zu. Sie hält nach geknickten Ästen Ausschau, nach Spuren, nach Abdrücken von Pfoten oder von Schuhen. Hört Boris’ Stimme, als stünde er neben ihr:
Hier muss es sein. Komm!
Sie waren am Ende der Schotterstraße aus dem Geländewagen ausgestiegen, zu Fuß der Schneise gefolgt, in einer kleinen Senke dem knietiefen Schlamm ausgewichen. Nach wenigen Minuten standen sie vor dem Tor, zu beiden Seiten reihten sich mannshohe Stacheldrahtrollen aneinander, waren eingebettet im Dickicht, verloren sich im Wald. Boris griff an die Kette, es folgte ein Jauchzen, freudig, laut, sodass sie stutzig wurde, warum freut er sich so?, sollte es nicht ein Schloss geben, sollte er nicht den Schlüssel dazu haben, wenn man ihnen schon diese Arbeit angeboten hat?
Sie folgte Boris auf das Gelände, dort entdeckten sie das zweistöckige Haus, die wellblechverkleidete Halle mit ihren alten Maschinen, hohen Fenstern und einem Boden aus festgepresstem Kies. Wie ein aufgeregtes Kind lief Boris hin und her, zog Ina nach kurzer Zeit wieder ins Freie, packte sie am Arm. Ina schüttelte seinen Griff ab, nun ging sie voraus, zurück zum Wagen, hielt unterwegs die Augen offen, bückte sich nach dicken Ästen, die sie in die Schlammgrube legten, um darüber fahren zu können, um nicht doch noch auf den allerletzten Metern zu scheitern.
Hinausgehen, nach dem Rechten sehen, sich auf den Wachturm stellen und in alle Richtungen blicken, auf Rauchsäulen achten, auf Motorengeräusche lauschen, den Deckel des Brunnens heben, prüfen, ob der Stollen gesichert ist, der Generator bereit, die Kanister vollzählig.
Das ist die Abmachung. Dafür wird Boris sie zur Winterstraße bringen, sobald es Zeit dafür ist. Es habe keinen Sinn, stur weiter durch die sibirische Einöde zu fahren, um dann früher oder später im Morast steckenzubleiben, sie müsse ohnehin warten, bis die Sümpfe frieren, da könne sie doch für wenige Monate seine Gehilfin sein. Jeder Wächter habe einen Assistenten, er habe noch keinen.
Komm schon, was sind schon zwei Monate oder drei: Ein Handschlag, ein Vertrag. Unleserliche Buchstaben, ein Stempel, Boris’ Unterschrift und, ganz unten am Rand, winzig und stark nach rechts geneigt, die ihre.
Ob sie Geld habe für Vorräte und zwei Tickets für die Fähre?, sie werde alles zurückbekommen, selbstverständlich, und guten Lohn dazu, die Assistenz sei gut bezahlt, ausgezeichnet sogar, wenn man bedenke, dass man nur wachsam sein und Notizen machen müsse. Es kämen auch keine Touristen, nicht wie etwa in Pyramiden, das täglich besichtigt werde und dementsprechend in Stand gehalten werden müsse. Das sei dort nämlich kein Vergnügen, man müsse nicht nur die Runden drehen, sondern Fragen beantworten und an Schlechtwettertagen putzen und reparieren und abdichten und ankleben und sogar schweißen.
Pyramiden?
Pyramiden. Minenstadt auf Spitzbergen. Zuerst Luxus, dann nichts als Ruinen, zuerst Orchester und frische Salatköpfe in Glashäusern, dann tote Katzen überall. Dass das kein Honigschlecken sei, das Vertreiben von Neugierigen und Vandalen, von Räubern und Forschern ohne Papiere, von Abenteurern und Verschwörern, das Instandhalten der verlassenen Räume, der Gästezimmer, der Küchen, Bäder, das wisse er von seinem Cousin, alle Details wisse er, obwohl er selbst noch nie dort gewesen sei, geschweige denn dort gearbeitet habe. Aber der Cousin könne so gut erzählen, da spare man sich die Reise. Sogar Geruch und Gestank und eine schiefe Türklinke erzählt er dir und in welcher Geschwindigkeit Staub auf die Möbel fällt. An der Fallgeschwindigkeit von Staub könne man ablesen, was man einatmet: Pollen oder Sand oder trockene Mäusekacke. In Pyramiden sei es in erster Linie Sand. Der müsse von den Möbeln entfernt und aus der Turnhalle gekehrt werden, um den Glanz der alten Zeiten sichtbar zu machen und ohne den die unverhofft sprudelnde Geldquelle so schnell wieder versiegen würde, wie man einst die Mineneingänge zugeschüttet habe.
Nicht einmal ein Abglanz von Pyramiden ist dieses Gelände, auf dem sie gestrandet ist. Wer soll die Kanister stehlen, wer soll an den Sicherungen drehen? Wer soll versuchen, in den Stollen einzudringen, der bereits nach wenigen Metern unpassierbar ist? Sie bewacht eine kleine Werkshalle, einen zweigeschossigen, kompakten Bau: einen Salon, holzvertäfelt, mit Klavier, zwei Waschräume, eine Küche, einen Vorratsraum, einige kleinere Kammern. Boris besteht darauf, dass sauber in das Buch eingetragen wird, nach jeder Runde, mit Datum und Stempel und Unterschrift.
Ina blickt in die Richtung, in der sie die Winterstraße vermutet, als könne sich ihr Blick durch das Gebüsch schlagen, durch den Wald schlängeln, als wäre ihr Blick ein Geräusch, das der Wind in die Ferne trägt.
Meine Computerzeit ist aus, wir sitzen auf dem Sofa in der Besucherecke, in der nie Besucher sind. Mark hört mir zu. Ein letztes Mal noch, ein vorletztes Mal, genau wissen wir es nicht. Ich zwinge mich dazu, die Gelegenheit zu nützen, obwohl ich heute eigentlich nicht reden will, obwohl alles in einem Nebel versinkt und ich nicht einmal genau weiß, was ich tatsächlich erzähle und was nur in meinem Kopf ist, welche Tentakel der Geschichte sich um meinen eigenen Hals legen und welche sich nach meinem Gegenüber ausstrecken.
Mark zieht seine Jacke aus, legt sie neben sich, starrt auf den Boden. Ich kauere im Schneidersitz in der Ecke, knete meine Fußsohlen, schließe die Augen. Ich beginne mit dem alten Ölfass, das ist eine gute Geschichte, sie hat einen Anfang und ein Ende, und sie verrät nichts über mich. Ich erzähle, wie ich in diesem Fass stehe, wie mich der