Michael Connelly

Night Team


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zufolge manuelle Strangulation. Diese Feststellung wurde dahingehend spezifiziert, dass die Würgespuren, die die Hände des Täters am Hals des Opfers zurückgelassen hatten, darauf hindeuteten, dass es von hinten gewürgt worden war – möglicherweise, während es sexuell missbraucht wurde. Zu den Gewebeschädigungen in Vagina und Anus war es dem Befund zufolge sowohl ante als auch post mortem gekommen. Die Fingernägel des Opfers waren post mortem entfernt worden, was als ein Versuch des Täters gedeutet wurde, jegliche biologische Spuren zu beseitigen.

      Außerdem wies die Leiche Abschürfungen und Kratzwunden auf, die dem Opfer nach Ansicht der Ermittler beigebracht worden waren, als es post mortem mit einer harten Bürste und Bleichmittel gesäubert worden war. Letzteres wurde in allen Körperöffnungen gefunden, darunter auch in Mund, Rachen und Gehörgängen. Der die Obduktion vornehmende Rechtsmediziner gelangte zu dem Schluss, dass die Leiche während des Säuberungsvorgangs in einem Behälter mit Bleichmittel gelegen hatte.

      Aus diesem Umstand und aus dem Todeszeitpunkt schlossen die Ermittler, dass der Mörder Daisy in ein Hotelzimmer oder an einen sonstigen Ort gebracht hatte, wo die Möglichkeit bestand, die Leiche in einer Wanne mit Bleichmittel zu säubern.

      »Da hat jemand nichts dem Zufall überlassen«, sagte Ballard laut.

      Wegen ihrer Rückschlüsse bezüglich des Bleichmittels verwendeten die Detectives zu Beginn ihrer Ermittlungen viel Zeit auf eine gründliche Überprüfung sämtlicher Motels und Hotels in Hollywood, von deren Zimmern man direkten Zugang zum Parkplatz hatte. Allen Angestellten wurde Daisys Schulfoto gezeigt, Zimmermädchen wurden befragt, ob es in einem Zimmer stark nach Bleichmittel gerochen hatte, Mülltonnen wurden nach Bleichmittelbehältern durchsucht, alles ohne Erfolg. Der Umstand, dass der Ort von Daisy Claytons Ermordung nicht bestimmt werden konnte, stellte von Anfang an ein gravierendes Handicap dar. Nach sechs Monaten wurden die Ermittlungen in Ermangelung von Anhaltspunkten und Verdächtigen eingestellt und der Fall als Cold Case zu den Akten gelegt.

      Schließlich wandte sich Ballard wieder den Tatortfotos zu, die sie diesmal trotz ihrer Entsetzlichkeit eingehend studierte. Die Jugend des Opfers, die von der enormen Kraft des Mörders zeugenden Verletzungen, die totale Verlassenheit, in der es in einem Müllcontainer nackt auf einem Haufen Abfälle lag … das alles weckte in Ballard tiefe Bestürzung und Betroffenheit über das schreckliche Schicksal des Mädchens. Ballard hatte nie zu den Ermittlern gehört, die bei Schichtende die Arbeit in einer Schublade zurücklassen konnten. Sie trug sie immer mit sich herum, und es war ihre Empathie, die sie motivierte.

      Bevor sie zur Nachtschicht versetzt worden war, hatte sich Ballard bei der RHD auf Sexualmorde spezialisiert und gemeinsam mit ihrem damaligen Partner Ken Chastain, der auf diesem Gebiet einer der renommiertesten Ermittler des LAPD gewesen war, mehrere Fortbildungsveranstaltungen zu dem Thema besucht. David Lambkin, der diese Seminare geleitet und sie sogar persönlich unter seine Fittiche genommen hatte, war lange die Koryphäe schlechthin auf seinem Gebiet gewesen, bis er den Job an den Nagel hängte und sich im Pazifischen Nordwesten zur Ruhe setzte.

      Ballards diesbezügliche Ambitionen waren durch ihre Versetzung zur Nachtschicht weitestgehend unterbunden worden, doch als sie jetzt die Clayton-Akte durchsah, ließen die schriftlichen Berichte das Bild eines Monsters vor ihr entstehen, das inzwischen schon neun Jahre lang unerkannt sein Unwesen trieb. Das rührte tief in ihr etwas an, etwas, das sie auch dazu veranlasst hatte, Polizistin zu werden und vor allem Männer zu jagen, die Frauen quälten und hinterher einfach auf den Müll warfen. Was Harry Bosch auch vorhatte, sie wollte unbedingt dabei mitmachen.

      Zwei Männerstimmen rissen Ballard aus ihren Gedanken. Als sie den Blick vom Bildschirm abwandte und über die Trennwand des Abteils schaute, sah sie zwei Detectives, die ihre Anzugjacken ablegten und über ihre Schreibtischstühle hängten, um einen neuen Arbeitstag zu beginnen.

      Einer von ihnen war Cesar Rivera.

      4

      Ballard packte ihre Sachen zusammen und stand von ihrem geborgten Schreibtisch auf. Zuerst ging sie in den Druckerraum, um die Berichte, die sie in der Nacht geschrieben hatte, aus dem Gemeinschaftsdrucker zu holen. Der Lieutenant des Detective Bureau war in dieser Hinsicht noch ganz vom alten Schlag und wollte ihre Berichte am Morgen immer auf Papier vorgelegt bekommen, obwohl sie ihm auch eine digitale Version zukommen ließ. Sie sortierte die Berichte über den Unfalltod und den Einbruch, heftete sie zusammen und legte sie in den Eingangskorb auf dem Schreibtisch des Adjutanten des Lieutenant, damit er sie bei seinem Eintreffen vorliegen hatte. Dann kehrte sie in den Bereitschaftsraum zurück und ging von hinten auf Rivera zu, der inzwischen an seinem Schreibtisch saß und sich für seinen Arbeitstag rüstete, indem er eine Miniaturflasche Whiskey in seinen Kaffee kippte. Ballard ließ sich nicht anmerken, dass sie das mitbekommen hatte, als sie ihn ansprach.

      »Sei gegrüßt, Cesar.«

      Rivera war auch einer von diesen Schnurrbarttypen, wobei seiner fast weiß war auf seiner braunen Haut. Dazu hatte er eine wallende weiße Mähne, die für LAPD-Maßstäbe etwas lang war, aber bei einem alten Haudegen geduldet wurde. Er zuckte leicht zusammen, da er offensichtlich fürchtete, bei seinem Morgenritual ertappt worden zu sein. Er drehte sich um, entspannte sich aber sofort, als er sah, dass es Ballard war. Er wusste, dass sie deswegen keinen Aufstand machen würde.

      »Renée«, sagte er, »was gibt’s, Mädchen? Hast du was für mich?«

      »Nein«, sagte sie. »Heute Nacht war nicht viel los.«

      Für den Fall, dass sie nach Verwesung roch, kam sie Rivera nicht zu nahe.

      »Was gibt es dann?«, fragte er.

      »Ich muss zwar gleich los«, sagte Ballard, »aber ich hätte da noch eine Frage: Du kennst doch bestimmt einen Harry Bosch, der mal hier gearbeitet hat? Er war bei der Mordkommission.«

      Sie deutete in die Ecke des Bereitschaftsraums, in der einmal die Mordermittler ihre Schreibtische gehabt hatten. Jetzt saß dort die Einheit zur Bekämpfung von Bandenkriminalität.

      »Das war, bevor ich hier angefangen habe«, sagte Rivera. »Ich weiß natürlich, wer er ist – es gibt wohl niemand, der das nicht weiß. Aber ich hatte nie was mit ihm zu tun. Wieso?«

      »Er war heute Morgen hier«, sagte Ballard.

      »Während der Friedhofsschicht?«

      »Ja. Er hat gesagt, er wäre hergekommen, um mit Dvorek über einen alten Mordfall zu reden. Aber ich habe ihn dabei ertappt, wie er sich deine Akten angesehen hat.«

      Sie deutete auf die lange Reihe von Aktenschränken entlang der Wand. Rivera schüttelte verwundert den Kopf.

      »Meine Akten? Wieso das denn?«

      »Wie lang bist du schon bei der Hollywood Division, Cesar?«

      »Sieben Jahre. Aber was hat das …«

      »Sagt dir der Name Daisy Clayton was? Sie wurde 2009 ermordet. Es ist ein offener Fall, der unter sexuell motiviert fällt.«

      Rivera schüttelte den Kopf.

      »Das war vor meiner Zeit hier. Damals war ich noch in Hollenbeck.«

      Er stand auf, ging zu den Aktenschränken und nahm einen Schlüsselbund aus der Hosentasche, um den obersten Schub seines Schranks zu öffnen.

      »Abgeschlossen«, sagte er. »Das war er auch, als ich gestern Feierabend gemacht habe.«

      »Ich habe ihn abgeschlossen, nachdem er gegangen ist«, sagte Ballard.

      Die aufgebogene Büroklammer, die sie im obersten Schub gefunden hatte, erwähnte sie nicht.

      »Ist Bosch nicht pensioniert?«, sagte Rivera. »Wie ist er überhaupt reingekommen? Hat er seinen 999er behalten, als er hier aufgehört hat?«

      Jeder Officer bekam einen sogenannten 999-Schlüssel, mit dem sich der Hintereingang jeder Polizeistation der Stadt aufschließen ließ. Sie wurden zur Ergänzung der elektronischen Kartenschlüssel ausgegeben, die bei Stromausfällen manchmal nicht funktionierten. Die Stadtverwaltung nahm es nicht allzu genau damit, sie von pensionierten Polizisten