Stig Ericson

Der Rote Sturm: aus den Erinnerung von Jenny M. Lind


Скачать книгу

vorbei. Er brachte die Post aus Rushville. Wir bekamen nie Briefe, aber Vater hatte den Rushville Standard abonniert, oder es kamen Samenkataloge, die Vater bei einer Firma in Lincoln bestellt hatte.

      Mutter bot Mr. Huff immer einen Becher Kaffe oder Pflaumenwein in der Küche an, und für mich gab es nichts Schöneres, als in einer Ecke zu sitzen und ihm zuzuhören, wenn er von der Großen Weiten Welt erzählte.

      Er erzählte von allen Leuten oben in Rushville, von den neugebauten Häusern und von all den merkwürdigen Dingen, die es in den Geschäften zu kaufen gab. Von der Postkutsche, die nach Pine Ridge fuhr und von sechs Pferden gezogen wurde, und – vom Allerwunderbarsten – der Eisenbahn.

      „Sie haben jetzt eine neue Lok bekommen. Sie ist an der Seite grün und hat rote Räder, und sie glänzt heller als die Sonne. Und der Schornstein, der ist so groß, daß man zehn Gören von deiner Sorte hineinstopfen könnte, ohne daß es auffiele. Diese Lok solltest du mal sehen...“

      Einmal fragte Mutter, wie es oben im Reservat aussah. Mr. Huff strich sich mit der Hand über die Glatze, schaute auf den Boden und verzog das Gesicht zu seinem schüchternen Lächeln. Tja, so lange die Roten ihre Lebensmittelrationen bekamen, hielten sie Ruhe, aber jetzt sah es damit eher schlecht aus.

      „Obwohl sie bei uns in Rushville kein Aufsehen erregen. Man sieht kaum welche. Und egal, wie warm es ist, so haben sie ihre schmutzigen Decken über den Schultern. Es gibt Leute, die behaupten, sie machen es, damit man ihre Waffen nicht sieht, aber das glaube ich nicht. Obwohl man ja auch hin und wieder welche sieht, denen man nicht im Dunklen begegnen möchte. Aber die meisten sitzen vor den Geschäften und starren vor sich hin. Als ob sie auf etwas warten würden.“

      Ich fragte, worauf sie warteten.

      Mr. Huff nahm seine Mütze und ging zur Tür.

      „Ich weiß es nicht. Vielleicht auf bessere Zeiten. Oder darauf, daß etwas passiert...“

      Im Sommer 1889 sammelte man Geld für die erste Schule in Bluewater, und im Herbst war das Gebäude fertig. Der Distrikt bekam die Nummer 37. Die Zahl war mit schwarzer Farbe auf ein weißes Brett gemalt worden, das über der Tür des langen Torfhauses angebracht war.

      Ich sehnte mich danach, in die Schule gehen zu können, wie man sich überhaupt nach etwas sehnen kann, wenn man gerade vierzehn Jahre alt geworden ist. Ich konnte deshalb nur enttäuscht sein, als ich ankam.

      Mein fünf Jahre jüngerer Bruder Daniel und ich bekamen schon am ersten Tag Schwierigkeiten. Die anderen Kinder hänselten uns wegen unserer Kleider, unserer Art zu reden und nicht zuletzt wegen unseres Vaters.

      Aber die Enttäuschung legte sich bald, und das war das Verdienst der Lehrerin.

      Sie hieß Mary Ryan und hatte meistens ein rotes Kleid an mit rundem Kragen und fünfzehn goldfarbenen Knöpfen, die wie kleine Sonnen strahlten. Ich hatte so ein warmes Rot noch nie gesehen.

      Und ich hatte noch nie so gepflegte Hände und so blanke Schuhe gesehen.

      Ich saß ganz hinten im Schulhaus auf einer langen Bank, reckte den Hals und glotzte ihre schwarzen Schuhe an. Ich weiß, daß ich auch an ihre Unterwäsche dachte: sie konnte unmöglich aus alten Mehlsäcken gemacht sein wie die von normalen Menschen.

      Aber Mrs. Ryan war auch kein normaler Mensch. Sie war eine Offenbarung, ein Lichtschein im Halbdunkel, und sie bedeutete unendlich viel für mich.

      Ihr verdanke ich, daß ich Ahnung davon bekam, daß es eine Welt gab hinter den Maisfeldern, dem Fluß und den Sandhügeln, ja sogar hinter Mr. Huffs Rushville.

      Ihr verdanke ich, daß ich begriff, daß es eine andere Sprache gab als die abgehackten Sätze, die bei uns zu Hause gewechselt wurden.

      Ich verehrte sie, meine erste Lehrerin. Durch sie füllte sich mein inneres Schweigen mit Wörtern. Sie gab mir Material für neue Träume.

      Einer der Träume war, daß ich eines Tages so werden würde wie sie. Ich würde sprechen wie sie, so schöne Kleider tragen wie sie, sein wie sie. Das war ein fast unerreichbares Ziel für eine scheue und störrische Farmerstochter, die gerade mal eben lesen gelernt und die Eisenbahn noch nie aus der Nähe gesehen hatte.

      Aber Daniel und ich durften nur ein paar Monate in die Schule gehen. Dann gab es für uns keinen Platz mehr; neue Familien, die näher wohnten, hatten sich niedergelassen.

      Ich hatte den Verdacht, daß Vater hinter dem Beschluß der Schulleitung steckte; er hatte eine ähnlich niedrige Meinung von amerikanischen Schulen und Lehrerinnen wie von Pfarrern und Wanderpredigern.

      Wir bekamen den Beschluß in der Schule mitgeteilt, und auf dem Heimweg saß ich in einer Schneewehe am Weg und haßte meinen Vater.

      Ich war untröstlich. Ich wollte die Luft anhalten, bis ich tot war.

      Ein paar Tage später bekamen wir abends Besuch von Mrs. Ryan. Vater war nicht zu Hause, und sie kam in die Küche und legte die ersten beiden Bände von Harper Lesebüchern auf den Tisch. Sie sagte, Daniel und ich sollten versuchen, alleine weiterzulesen, und Mutter könnte uns bestimmt helfen, wenn wir mal bei einem Wort nicht weiterkämen.

      Dann bat sie mich, sie hinauszubegleiten, und als wir bei ihrem Einspänner waren, holte sie etwas unter der Decke auf dem Sitz hervor.

      „Hier...“

      Sie reichte mir ein Buch, das in Zeitungspapier eingeschlagen war.

      „Es ist eine Bibel“, sagte sie. „Ich wollte sie nicht mit hineinnehmen, weil ich ja nicht wußte, ob Onkel Charles... tja, was er von der Religion hält, weißt du ja sehr viel besser als ich.“

      Ich konnte das Paket nicht entgegennehmen. Es brannte im Hals und drückte hinter den Augäpfeln. Ich konnte mit dieser unvermuteten Freundlichkeit, diesem Vertrauen nicht umgehen.

      Ich starrte in den sternenhellen Schnee und hörte Mrs. Ryan sagen:

      „Nimm sie jetzt. Ich möchte, daß du sie bekommst. Verstehst du? Ich möchte es.“

      Sie steckte mir das Paket unter den Arm, streichelte mir leicht über die Wange, stieg auf ihren Einspänner und fuhr davon.

      Ich entdeckte später, daß sie mir ihre eigene Bibel geschenkt hatte, die sie wahrscheinlich zur Konfirmation bekommen hatte. Auf dem hellbraunen Papier im Deckel stand mit Tinte geschrieben ihr Mädchenname: Mary Elisabeth Finerty.

      Mrs. Ryans Bibel sollte mir sehr viel bedeuten in dem schlimmen Winter, der dann kam.

      Sie gab mir Mut und Stärke, als ich glaubte, nach einem schweren Schneesturm blind zu werden. Ich bewahrte sie in einer leeren Blechkiste neben meinem Bett auf, und auch wenn ich sie nicht sehen konnte, so wußte ich doch, daß sie da war, und als ich dann wieder auf einem Auge sehen konnte, gelobte ich mir, jeden Tag in der Bibel zu lesen.a

      Und das machte ich auch, ich buchstabierte mich nicht nur durch Texte in der Bibel; ich las den Rushville Standard, Vaters Samenkataloge, ja, eben alles, was ich in die Hände bekam...

      Manches verstand ich, aber das meiste natürlich nicht. Ich stolperte über jede Menge Wörter, die völlig neu für mich waren. Ich konnte sie nicht aussprechen und hatte keine Ahnung, was sie bedeuteten. Ich lernte, wie man sie schrieb, und dann probierte ich, wenn ich alleine war, unterschiedliche Aussprachen. Ich versuchte auch zu erraten, was sie bedeuteten.

      Ich machte ein Spiel daraus.

      Ich versuchte auch, Wörter zu finden, die sich mit den neuen Ausdrücken reimten:

      Flechten, hechten, knechten, rechten ...

      Die Reimverse drehten sich dann in meinem Kopf, wenn ich meine kleinen Geschwister hüten oder in Vaters Garten Unkraut jäten mußte.

      Die Bibel, die ich von Mrs. Ryan geschenkt bekommen hatte, zeigte mir den Weg zu einer funktionierenden Sprache, und nur derjenige, der sich eine Sprache erkämpfen mußte, weiß ihren Wert zu schätzen.

      Aber ich zeigte die Bibel nie meinem Vater.

      Die