Stig Ericson

Der Rote Sturm: aus den Erinnerung von Jenny M. Lind


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Nähe des Flusses ein bißchen außerhalb des Ortes. Von uns waren es sicher vier Meilen bis dorthin.

      Der Bruder hieß James Finerty und war Militärarzt gewesen. Er wurde immer nur der Knochensäger genannt, und es ging das Gerücht, daß er sich selbst das Bein abgesägt hatte, nachdem das Knie von einer Kugel zertrümmert worden war in der Schlacht gegen Crazy Horse und seine Sioux oben in Montana im Jahr 1876.

      Äußerlich war der Knochensäger das totale Gegenteil seiner Schwester. Sie war klein und dunkel, er war groß und hager und hatte kurze, fast weiße Haare. Sie lächelte oft, sein glattrasiertes Gesicht zeigte nie eine Bewegung. Außerdem trug er immer schwarze Kleider, wodurch er einen an einen Prediger erinnerte, so einen ‚Himmelslotsen’ – das war Vaters Ausdruck – die ihre geballten Fäuste gen Himmel reckten und allen Sündern mit ewiger Qual in einer brennenden Hölle drohten.

      Wir Kinder hatten Angst vor dem Knochensäger, und wenn er in seinem schwarzen Buggy vorüberfuhr – das Ende seines Holzbeins ruhte auf einem Gestell neben dem Fußbrett – lief es vielen kalt den Rücken hinunter.

      Man fragte sich, wessen Bein er als nächstes absägen würde.

      Das waren natürlich alles dumme Übertreibungen. Er war ganz im Gegenteil ein sehr freundlicher Mann, der immer kam, wenn man ihn brauchte.

      Im Frühsommer wurde Vater von einer Klapperschlange gebissen.

      Wir befanden uns auf neuerschlossenem Ackerland weit drinnen zwischen den Sandhügeln. Mein Bruder Daniel war auch da und der Indianer John White Elk, von dem ich später noch mehr erzählen werde, und wir fuhren in rasender Fahrt zurück nach Bluewater. Vater lag auf der Ladefläche des Wagens und hatte so große Schmerzen, daß er sicher war, sterben zu müssen.

      Aber das wollte er zu Hause und nirgendwo sonst.

      Sobald wir nach Hause kamen, lief ich zu Doktor Finerty. Es war schon spät, und ich rannte den ganzen Weg, und als ich ankam, war ich so erschöpft, daß ich ohnmächtig wurde.

      Mrs. Ryan kümmerte sich um mich, der Doktor fuhr zu meinem Vater.

      Aber es war eine ganz andere Mrs. Ryan als die, die ich aus der Schule und von dem Abendbesuch zu Hause kannte. Sie hatte Falten um die Augen, die Wangen waren bleich und eingefallen, und als sie sich über mich beugte, spürte ich, daß ihr Atem etwas süßlich und übelerregend roch.

      Ich erholte mich schnell wieder, und Mrs. Ryan kochte Tee, während wir auf die Rückkehr des Doktors warteten. Wir saßen an einem runden Tisch und redeten, und sie sagte, sie habe als Mädchen auch von einem schönen, weißen Kleid geträumt. Dann zeigte sie mir eine Fotografie ihres toten Mannes, Leutnant Marcus Ryan. Er war in derselben Indianerschlacht wie ihr Bruder, der Doktor, dabeigewesen, aber er hatte eine Kugel in den Bauch bekommen und war nach schlimmen Schmerzen gestorben.

      Mrs. Ryan sprach mit mir so, wie noch nie jemand mit mir gesprochen hatte, direkt, leise und ehrlich, und sie schaute mir die ganze Zeit in die Augen. Es war leicht, ihr in die Augen zu schauen, und vielleicht habe ich mich deshalb einen Monat später wieder in ihr Haus gewagt.

      Ich wollte sie nach ein paar Wörtern fragen, die ich nicht verstand. Eines davon war Galeere. Eines der Stücke in Harper’s zweitem Lesebuch handelte von einem Jungen, der von den Spaniern gefangen genommen worden war und auf eine Galeere geschickt wurde. Galeere, Gewehre, Schwere...

      Die Reimwörter dröhnten in meinem Kopf, als ich zu dem weißen Haus am Fluß kam. Ich sah sofort, daß der Doktor unterwegs auf einem seiner Krankenbesuche war. Der Buggy war weg und das Pferdegehege leer.

      Ich ging zur Tür und klopfte an.

      Es war ganz still im Haus, aber dann hörte man langsame Schritte.

      „Der Doktor ist nicht zu Hause.“

      Mrs. Ryans Stimme auf der anderen Seite. Aber sie war kaum wiederzuerkennen.

      Ich bereute, hergekommen zu sein.

      „Wer ist da?“

      Wieder Mrs. Ryans Stimme – und jetzt machte sie vorsichtig die Tür einen Spaltbreit auf.

      „Jenny.“

      Mehr sagte sie nicht, wir starrten uns an, und ich brauchte nur einen Augenblick, um zu erkennen, wie schlecht sie aussah: die Falte zwischen den Augenbrauen, die eingefallenen Wangen und die glänzenden Augen...

      Ich wollte gar nicht mehr sehen. Ich machte einen Schritt zurück und bekam etwas heraus wie: „Ich soll den Doktor von Vater grüßen und sagen, daß es ihm viel besser geht.“

      Ich knickste und drehte mich zum Gehen, wurde aber von Mrs. Ryans Stimme zurückgehalten.

      „Kleine Jenny.“

      „Ja.“

      „Entschuldige mich bitte. Aber ich bin ein wenig... unpäßlich. Ich bin... nicht ganz gesund.“

      Ich starrte in den Sand. Warum war ich bloß hergekommen? Warum?

      „Ich freue mich, daß du gekommen bist“, fuhr Mrs. Ryan mit festerer Stimme fort. „Und es tut mir so leid, daß... warte einen Moment. Geh nicht weg.“

      Sie machte die Tür zu. Nach einer Weile ging sie wieder auf, aber wieder nur einen Spaltbreit.

      „Hier. Das vierte Lesebuch. Lies laut. Aber nicht zu schnell. Man soll es beim Lesen nie eilig haben. Und sprich jedes Wort so deutlich aus wie du kannst.“

      Das war fast wieder die richtige Mrs. Ryan, die da sprach, aber nur fast. Als ich einen Schritt auf sie zumachte, um das Buch entgegenzunehmen, sah ich, daß sie schmutzige Fingernägel hatte.

      Ich knickste, dankte und sagte, daß ich das Buch bald wieder zurückbringen würde.

      „Das brauchst du nicht“, sagte Mrs. Ryan durch den Türspalt. „Ich muß nämlich... bald verreisen.“

      „Weit weg?„

      „Ja, weit weg. Paß auf dich auf, kleine Miss Jenny Lind.“

      Sie machte schnell die Tür zu, und ich stand da und hatte das grüne Lesebuch in der Hand. Von drinnen hörte man etwas, das wie ein Schluchzen klang, aber das kann auch Einbildung gewesen sein.

      Ich ging nach ungefähr einer Woche trotzdem wieder zu ihrem Haus. Ich hatte den Eindruck gehabt, daß Mrs. Ryan abreisen und nie wiederkommen würde, und ich wollte sie nicht so in Erinnerung behalten, wie sie aussah, als sie krank war.

      Ich hatte nicht vor, zum Haus zu gehen und anzuklopfen. Ich wollte nur einen Schatten der normalen, gepflegten Mrs. Ryan im roten Kleid mit Knöpfen, die wie Gold glänzten, sehen.

      Diese Mrs. Ryan wollte ich in Erinnerung behalten.

      Auch jetzt war der Buggy weg, ebenso wie das Pferd. Ich stand lange auf der Straße und schaute hinunter auf das weiße Haus am Abhang. Aber nichts rührte sich da unten, außer den rotgeflügelten Drosseln in den Büschen am Fluß.

      Schließlich ging ich doch zum Haus hinunter. Es war still, tot, verlassen. Ich hörte nur die Vögel – und meinen eigenen Atem. Ich ging zur Tür.

      Sie war verschlossen.

      Mrs. Ryan war schon auf ihre lange Reise aufgebrochen.

      Ich fühlte mich unheimlich einsam.

      Erinnerungsbilder

      Zwei Tage später erfuhr ich, daß Mrs. Ryan nie mehr von ihrer langen Reise zurückkommen würde.

      Es war ein blauer Abend, ein düsterer Abend. Mutter hatte mit mir geschimpft. Ob ich nichts anderes zu tun hätte, als draußen herumzulaufen. Und immer dieses Lesen, dieses Lesen...

      Ich stand am Herd, als Vater hereingetrampelt kam. Er war den ganzen Tag weggewesen. Ich starrte in den Breitopf und hörte, wie er den alten Hut mit der abgeschnittenen Krempe hinwarf und die Winchester an der Tür abstellte. Er grunzte etwas und ging sofort zu seinem Arbeitstisch, wo der Rohling für einen neuen Gewehrkolben in einer Zwinge eingespannt