Örjan Persson

Pferdeferien oder die Reise nach Kopenhagen


Скачать книгу

      Örjan Persson

      Pferdeferien oder Die Reise nach Kopenhagen

      Deutsch von Lothar Schneider

      Saga

      1

      Es war der Morgen meines sechzehnten Geburtstags, und Petrus, mein Zwillingsbruder, der natürlich ebenfalls sechzehn wurde, war als erster mit einem Paket und diesem Gedicht zu mir hereingekommen.

      Ich muß wohl erklären, was er mit dem Gedicht meinte, dann versteht man vielleicht besser, warum ich es gemein fand.

      Wenn Dein Herz mal wieder bricht,

      wie bei Christer, diesem Wicht,

      nimm nicht Uhu, um zu kleben,

      vergiß ihn, und weiter geht das Leben.

      Denk daran, du hast ja Mister,

      Alles Gute, liebe Sister!

      „Das ist eine Gemeinheit“, schimpfte ich, als ich das Gedicht gelesen hatte. „Und du bist so unverschämt und kommst mit einem Geschenk daher! Ich glaube nicht, daß ich es aufmache. Wie ich dich kenne, springt mir sowieso nur irgendein scheußlicher Horrorteufel aus Plastik ins Gesicht.“

      „Aber Eva, ich wollte doch gar nicht gemein sein!“ Petrus sah beleidigt aus, und einen Augenblick lang glaubte ich ihm fast. „Das ist das beste Gedicht, das ich je geschrieben habe. Übrigens auch mein erstes. Mach jetzt das Geschenk auf, ich verspreche dir, daß nichts Schlimmes drin ist!“

      „Aber dieser komische Reim!“ sagte ich. „Mit Sister! Und warum mußtest du mich an Christer erinnern? Du weißt doch, wie mich das fertiggemacht hat!“

      Was er über Mister schrieb, ist ganz in Ordnung, denn Mister ist mein Pferd, und daß ich, wenn das Leben besonders hart ist, bei ihm Trost finde, stimmt. Denn Mister freut sich fast immer, wenn ich komme. Natürlich freut er sich noch mehr, wenn ich ein Stück Brot oder einen Apfel mitbringe.

      Manchmal ist ja das Leben gar nicht toll. Alle sind griesgrämig und sauer, und man wird angemacht, weil man sein Zimmer nicht aufgeräumt hat, dabei hatte man einfach keine Lust dazu. Oder man hat sich bei einer Mathearbeit blamiert, weil man an andere Dinge dachte und deshalb jede Menge Leichtsinnsfehler machte, obwohl man eigentlich alles gekonnt hätte. Oder vielleicht war man neidisch und wütend über Mia, die um ein Jahr ältere Schwester, die so gut aussieht und Kurven hat, während man selber pickelig und häßlich ist und flach wie ein Bügelbrett. Mia braucht den Typ, den sie haben will, nur ein bißchen verführerisch anzulachen, und schon rennt er hinter ihr her, so lange sie will. Das sind einige kleine Beispiele, um zu zeigen, warum man sich manchmal am liebsten ertränken würde oder wenigstens irgendwo verkriechen.

      Aber zum Glück habe ich Mister und brauche mich nicht zu ertränken. Wenn er draußen auf der Weide ist, hört er auf mein Pfeifen und kommt zu mir. Wir haben eine große Weide mit einem ziemlich großen Gehölz darin, und wenn ich mich auf einen kleinen Hügel stelle, zehn Meter hinter dem Gatter, und pfeife, hört mich Mister, egal, wo er gerade ist, und bricht aus dem Wäldchen hervor.

      Drei Meter vor mir bremst er und hofft, daß ich etwas zum Naschen für ihn dabeihabe. Greife ich dann mit der Hand in die Tasche, stupst er gegen mein Handgelenk, damit ich das Stück Brot, oder was ich sonst habe, heraushole. Bringe ich aber nur das Halfter mit, kann es sein, daß er mich verwundert anschaut, kehrtmacht und davongaloppiert.

      Er nimmt dann nicht die Brücke über den Graben, nein, er überwindet den breiten Graben in einem eleganten Sprung, daß die schwarze Mähne nur so flattert. Er sieht dann aus wie der Schwarze Hengst, die Muskeln spielen unter dem glänzenden, schwarzen Fell, stolz streckt er den Kopf nach vorn.

      Manchmal scheint Mister zu glauben, er sei noch ein Junghengst, dabei ist er ein fünfzehn Jahre alter Wallach. Und wenn wir in die Nähe einer rossigen Stute kommen, benimmt er sich manchmal total albern. Er wiehert und schnaubt und bäumt sich sogar auf.

      Als er das zum ersten Mal machte, war ich völlig unvorbereitet. Ich war zehn Jahre alt, und wir hatten Mister eben gekauft. Ich ritt ganz langsam im Schritt auf einer Dorfstraße, als er plötzlich eine rossige Stute erspähte und sich auf die Hinterbeine stellte.

      Ich fiel herunter. Zum Glück sah mich niemand, es muß sehr komisch ausgesehen haben. Ich verlor die Zügel, die Sicherheitssteigbügel öffneten sich, ich rutschte rückwärts hinunter und landete hinter den Hufen von Mister. Das hat verdammt weh getan. Und ich wurde wütend! Ich sprang auf und zog ihm die Gerte über die Hinterbacke. Das war dumm und ungerecht von mir. Mister kümmerte sich zwar nicht mehr um die Stute, aber er war mit einem Satz fort, rannte nach Hause. Und ich mußte zwei Kilometer stiefeln, mit schmerzendem Steißbein und ganz verschwitzt.

      Zu Hause habe ich niemandem erzählt, daß ich ihn geschlagen habe. Aber ich habe es nie wieder getan. Später habe ich mich bei ihm entschuldigt, und ich hoffe, er hat mich verstanden.

      Mister ist eine Kreuzung aus einem Vollblüter und einem New Forest. Eigentlich ist er ein Pony, aber ich bezeichne ihn trotzdem als Pferd. Wäre er einen Zentimeter größer, müßte man ihn als Pferd einstufen. Er ist gut im Springen, wir beide haben mehrere Wettkämpfe gewonnen, unter anderem zwei Clubmeisterschaften. In der Dressur ist er nicht ganz so gut, aber das ist mit Sicherheit auf mich zurückzuführen. Ich bin eben nicht so gut, er ist ein großartiges Pferd.

      Wo war ich stehengeblieben? Wenn ich von Mister erzähle, vergesse ich mich gewöhnlich und höre nicht mehr auf zu reden. Dabei wollte ich ja das Gedicht, das Petrus mir gemacht hatte, erklären.

      Wenn man mit sich und der Welt zerfallen ist, gibt es nur eins, was man tun kann, falls man sich nicht ertränken will: zu seinem Pferd zu gehen. Und wenn Mister nicht auf der Weide ist, sondern im Stall, gehe ich in die Box und lege meinen Kopf an seinen Hals und erzähle ihm, was passiert ist und wie ich mich fühle. Und Mister versteht mich genau. Er lacht nicht, darauf kann ich mich verlassen. Er steht ruhig da und dreht nach einer Weile den Kopf, um mich mit dem Maul aufmunternd anzustupsen und mich verständnisvoll anzusehen. Dann weiß ich, daß er mit mir fühlt und mich trösten will.

      Dann bekommt er ein Zuckerstück oder etwas Hafer, und wir denken beide über die Widrigkeiten und Ungerechtigkeiten der Welt nach. Ich setze mich dann in die hintere Ecke der Box und grüble.

      Und Mister kommt ab und zu mit seinem schönen, klugen Kopf zu mir herunter, um nachzusehen, wie es mir geht. Nach einer Weile taucht meistens jemand auf und schreit, daß Essenszeit ist und: „Du solltest doch wissen, daß wir um diese Zeit essen!“

      Dann protestiere ich mit der schwachen Ausrede, keine Uhr bei mir zu haben, und verspreche, gleich zu kommen. Und ich streichle Mister, der ein Bein hochgezogen hat und aussieht, als würde er schlafen. Dann renne ich los zu den anderen, die schon beim Essen sitzen. Weil Stallkleidung in der Küche verboten ist, muß ich mich noch umziehen und waschen, und bis ich dann fertig bin, haben die anderen gegessen und sind wieder aufgestanden. Dann sitze ich allein bei Tisch, das Essen ist lauwarm, und allein muß ich abdecken und die Teller in die Spülmaschine stellen. Etwa zu diesem Zeitpunkt ist der Funken guter Stimmung, die ich hatte, als ich aus dem Stall kam, wieder erloschen, und ich ziehe mich in mein Zimmer zurück und bin nicht mehr zu sprechen.

      Ist außerdem am nächsten Tag eine Kurzarbeit über die Geschichte Rußlands zu erwarten, kann man leicht schwermütig werden. Wirklich. Aber ich kann ja das Buch mitnehmen zu Mister, kann mich in eine Ecke der Box verkrümeln und ihm alles über russische Geschichte vorlesen.

      Mister hört mir aufmerksam zu und nickt verständig. Hin und wieder grunzt er. Und manchmal, wenn ich mit meinen Hausaufgaben bei ihm saß, sind wir beide eingeschlafen. Meistens kommt dann jemand daher und schreit: „Eva! Was machst du denn hier? Es ist schon lange Schlafenszeit!“ Oder etwas Ähnliches.

      Also trottet man in sein Zimmer und schläft dort weiter, und am nächsten Tag hat man keine Ahnung mehr, wann die russische Revolution war, und die Arbeit wird ein lausiger Fünfer.

      Ich frage mich oft, wozu wir wissen müssen, wann die russische Revolution war, oder all das andere Zeug, das man für eine Arbeit paukt, um es einen Tag später wieder zu vergessen. Es gibt doch wichtigere