reiten und der 3. Hauptsatz der Sitzhilfen
Der Zaum – Kontrolle, Anlehnung oder Kommunikation?
Der Einfluss des Reiters auf die Ganzkörperschwingung des Pferdes
Der Ursprung der Bewegungssymbiose: 5000 v. Chr. – 16. Jahrhundert
Die Entwicklung der Reitlehre in Europa: 16. – 18. Jahrhundert
Reittechnik und Reitsport im 19. und 20. Jahrhundert
Reiten im 21. Jahrhundert – die Zeit ist reif!
(Zeichnung: Brigitte Kaluza)
VORWORT
Reiten funktioniert nach üblicher Vorstellung so, dass der Mensch auf dem Pferd sitzt und dessen Bewegungen durch Zügel- und Schenkelhilfen lenkt und kontrolliert. So wird Reiten heutzutage unterrichtet. Man kann auf diese Weise in der Tat lernen, wie man auf einem Pferd reitet. Man kann auch ein Pferd dazu ausbilden, auf Zügel- und Schenkelhilfen zu reagieren. Diese Reittechnik wird jedoch immer grobmotorisch wirken. In dieser Reitweise transportiert das Pferd den Reiter auf seinem Rücken und reagiert als dessen Befehlsempfänger.
Einige wenige Prozent der Reiter (oft diejenigen, die es als Kleinkinder gelernt haben) reiten jedoch ganz anders, ohne Schenkel und Zügelhilfen. Diese Reiter bewegen sich gemeinsam mit ihrem Pferd. In der Art, wie sich der Rumpf des Pferdes zwischen Sitz und Oberschenkeln des Reiters bewegt, steckt die gesamte Information über seine Bewegung, Gangart, Tempo, Richtung und Biegung. Aus der Art, wie der Reiter mit seinem Sitz und seinen Oberschenkeln das Pferd „umarmt“ und die Pferdebewegung entweder zulässt, mit seiner eigenen Rumpfmuskulatur verstärkt oder blockiert, erhält das Pferd eine direkte und verständliche Information über die Bewegungswünsche des Reiters. Zügel- oder Schenkelhilfen werden bei dieser Reittechnik nur eingesetzt, falls das Pferd ungehorsam ist, aber auf diese Weise gerittene Pferde reagieren so feinfühlig auf die Körperhaltung des Menschen, dass sie sich ganz ohne Schenkel- und Zügelhilfen in die komplexesten Dressurlektionen führen lassen.
Dieses „Reiten nur am Sitz“ ist erlernbar. Eine Methode zum Erlernen dieser Reitweise ist es, in möglichst frühem Kindesalter auf einem möglichst gut ausgebildeten Pferd die Grundlagen dieser Technik zu erfühlen und sich anschließend im Erwachsenenalter mit dem Repertoire der sinnvollen Lektionen zur Gymnastizierung von Pferden vertraut zu machen. Diese Methode hat eine jahrtausendealte Tradition. Die gesamte Reitliteratur der „alten Meister“ von Xenophon (400 v. Chr.) bis Guérinière (18. Jahrhundert) basiert auf diesem Konzept und setzt voraus, dass ein Reitschüler das „Reiten am Sitz“ auf einem ausgebildeten Pferd erfühlt hat und darauf aufbauend nun sinnvolle Lektionen zur Verfeinerung seiner Fertigkeiten und zur Gymnastizierung seines Pferdes erlernen will. Der überwiegenden Mehrheit der heutigen Reiter mangelt es jedoch an der Grundvoraussetzung, denn wer lernt heute noch das Reiten als Kind auf einem Pferd, das dazu ausgebildet wurde, fein auf den Reitersitz als einzige Hilfe zu reagieren?
Als Konsequenz haben wir heute nur einige wenige Prozent „begabte“ Reiter, die das Reiten nur am Sitz beherrschen und daher Zügel- und Schenkelhilfen lediglich ergänzend zur Betonung ihrer Wünsche einsetzen. Demgegenüber steht die überwältigende Mehrheit der Reiter, die ihre Pferde buchstäblich mit Händen und Füßen bearbeiten und dennoch vergeblich nach dieser Leichtigkeit und Harmonie einer gemeinsamen Bewegung suchen. Auch Unterricht bei „begabten“ Reitern hilft wenig, denn diese können ihre Fertigkeit nicht so mit Worten erklären, dass sie für einen „Unbegabten“ nachvollziehbar wird.
Manolo Oliva (Jahrgang 1965) ist in der Doma Vaquera, der Doma Classica und der Alta Escuela zu Hause und einer der zeitgenössischen Reitmeister, die das Reiten „nur am Sitz“ beherrschen. Aus einem Interview der Zeitschrift „Feine Hilfen“ (Heft 20, Dezember 2016) sind folgende Sätze von ihm zitiert (Oliva, 2016): „Wenn man Reitern sagt, dass sie ihre Hände und Beine nicht benutzen dürfen, finden sie meist von ganz allein ihre Art zu sitzen. Man muss gar nicht mehr sagen. Können Sie mir erklären, wie man ein Fahrrad fährt? Nein, können Sie nicht. Aber jeder meint, anderen erklären zu können, wie sie die Balance auf einem Pferd finden. Das ist der zentrale Fehler. Setzt man ein Kind auf den Rücken eines netten, friedlichen Pferdes und sagt ihm, dass es weder seine Hände noch seine Beine benutzen soll, wird es eine halbe Stunde später das Pferd ohne Probleme nach links und nach rechts steuern können, ohne seine Hände zu benutzen. Warum? Weil das etwas ganz Natürliches ist. Das Kind muss nur lernen, über die Bewegungen des Pferdes seinen eigenen Körper zu spüren.“ In diesem Zitat ist bereits alles Entscheidende über das Reiten „nur am Sitz“ gesagt: Weglassen aller Zügel- und Schenkelhilfen und über die Bewegungen des Pferdes den eigenen Körper spüren. Wenn Sie allerdings zur überwiegenden Mehrheit der erwachsenen „unbegabten“ Reiter gehören, werden Sie allein mit diesem Rat nichts anfangen können und stattdessen viele Fragen haben, zum Beispiel: Wie kann man ein Pferd lenken, indem man seine Bewegungen im eigenen Körper spürt? Warum darf man dabei seine Hände und Beine nicht benutzen?
Die gute Nachricht ist – man kann mithilfe der modernen Naturwissenschaft all diese Fragen beantworten (und selbstverständlich auch erklären, wie man Fahrrad fährt). Ein Blick in die moderne Neurobiologie (Kapitel 1 dieses Buches) erklärt, warum wir unsere Hände und Beine beim Reiten möglichst nicht gebrauchen sollten und was es bedeutet, über die Bewegung des Pferdes den eigenen Körper zu spüren.
Versteht man die Biomechanik der Pferdebewegung (Kapitel 2) und deren Übertragung auf den menschlichen Körper (Kapitel 3), so versteht man auch, wie der Reiter die Bewegung des Pferdes mit seinem Körper „lesen“ und steuern kann. Dieses biomechanische Verständnis und das darauf aufbauende Körpergefühl sind dann die Grundlage einer wirklichen Gymnastizierung des Reitpferdes (Kapitel 4).
Vieles in diesen ersten vier Kapiteln wird fremdartig wirken im Vergleich zur heutigen und historischen Reitliteratur, die auf einer jahrtausendealten Kultur aufbaut. Die Reitmeister der vergangenen Jahrhunderte haben viele Zusammenhänge erfühlt, die sie mit der ihnen verfügbaren Wissenschaft noch nicht analysieren konnten. Sie haben, auf dem Wissensstand ihrer Zeit und orientiert an den damaligen Bedürfnissen, viele didaktische Meisterwerke über die Reitkunst geschaffen. Daher ist der letzte Teil dieses Buches (