Adam Silvera

Am Ende sterben wir sowieso


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schnappe mir meinen Helm und gehe rückwärts Richtung Küche, den Blick auf alle Plutos gerichtet. Mein Dad hat mal gesagt, Abschied ist »eine unmögliche Möglichkeit«, weil man ihn eigentlich nie nehmen will, aber blöd wäre, es nicht zu tun, wenn man die Gelegenheit dazu hat. Um meinen Abschied werde ich jetzt betrogen, weil bei meiner Trauerfeier der Falsche aufgetaucht ist.

      Ich schüttele den Kopf, halte den Atem an und renne hinten raus. Ich laufe durch den Hinterhof, den wir alle wegen den gnadenlosen Mücken und Fruchtfliegen immer gehasst haben, und springe über den Zaun. Dann schleiche ich ums Haus nach vorn, um zu sehen, ob ich vielleicht an mein Fahrrad rankomme, damit ich nicht zu Fuß abhauen muss. Der Streifenwagen steht vor der Tür, aber offenbar sind beide Polizisten im Haus oder vielleicht auch schon im Hinterhof, falls Peck mich verpfiffen hat. Ich schnappe mir mein Rad, renne damit den Bürgersteig entlang und springe auf den Sattel, sobald ich genug Schwung habe.

      Ich weiß nicht, wo ich hinfahre, aber ich fahre immer weiter.

      Ich habe meine Trauerfeier miterlebt, aber ich wünschte, ich wäre schon tot.

      MATEO

      02:52 Uhr

      Es sind wohl eher aller schlechten Dinge drei. Ich weiß nicht mal, ob Elle wirklich todgeweiht ist, aber ich habe sie ohne weitere Nachforschungen blockiert, weil sie mich mit irgendwelchen Links zu »witzigen Snuff-Filmen, die danebengegangen sind«, zugemüllt hat. Danach habe ich die App geschlossen.

      Ich muss zugeben, dass ich mich in gewisser Weise bestätigt darin fühle, wie ich mein Leben gelebt habe. Menschen können echt übel sein. Es ist gar nicht so einfach, ein Gespräch in gegenseitigem Respekt zu führen, geschweige denn einen letzten Freund zu finden.

      Es kommen immer weiter Pop-ups rein, die mich über neue Nachrichten informieren, aber ich beachte sie nicht, weil ich gerade im zehnten Level von A Dark Vanishing bin, diesem genialen Videospiel, für das ich gerade nach Cheats suchen will. Mein Held Cove, ein Level-siebzehn-Hexer mit Flammenhaar, kann das bettelarme Königreich nicht ohne eine Gabe für die Prinzessin durchqueren. Also gehe ich (besser gesagt, geht Cove) vorbei an allen Straßenhändlern, die versuchen, ihre bronzenen Anstecknadeln und verrosteten Schlösser an den Mann zu bringen, direkt zu den Piraten.

      Offenbar habe ich auf dem Weg zum Hafen kurz nicht aufgepasst, denn Cove tritt auf eine Landmine und ich habe keine Zeit mehr, mich für die Explosion in die Geisterebene zurückzuziehen. Coves Arm fliegt durchs Fenster einer Hütte, sein Kopf steigt in den Himmel auf und seine Beine werden völlig zerfetzt.

      Während die Seite neu lädt, hämmert mein Herz, bis Cove plötzlich wieder da ist, so gut wie neu. Cove hat echt Glück.

      Ich werde nachher nicht wiederauferstehen können.

      Ich verschwende hier drin meine Zeit und …

      In meinem Zimmer steht ein zweiteiliges Bücherregal. In dem blauen unteren Teil stehen meine Lieblingsbücher, von denen ich mich nicht trennen konnte, wenn ich einmal im Monat Bücher für das Jugendgesundheitszentrum bei uns in der Straße aussortiert habe. Im weißen Regalteil darüber stehen die Bücher, die ich noch lesen wollte.

      Ich hole die Bücher herunter, als hätte ich Zeit, sie alle noch zu lesen. Ich möchte wissen, wie dieser Junge nach seiner rituellen Wiedererweckung mit einem Leben klarkommt, das inzwischen ohne ihn weitergegangen ist. Oder wie das kleine Mädchen sich gefühlt hat, das nicht bei der Talentshow in der Schule auftreten konnte, weil seine Eltern den Anruf des Todesboten bekamen, während es von Klavieren träumte. Oder wie dieser Held, der die Hoffnung seines Volkes genannt wird, eine Nachricht von todesbotenähnlichen Propheten bekommt, die ihm mitteilen, dass er sechs Tage vor der entscheidenden Schlacht sterben wird, bei der er den Sieg über den bösen König herbeiführen könnte. Ich schleudere die Bücher durchs Zimmer und trete sogar noch einige meiner Lieblingsbücher von ihrem Regalbrett, weil der Unterschied zwischen Lieblingsbüchern und Büchern, die nie dazu werden können, keine Rolle mehr spielt.

      Dann stürme ich auf meine Lautsprecher zu und schleudere auch sie beinahe gegen die Wand, halte mich jedoch im letzten Moment zurück. Bücher stehen nicht unter Strom, aber Lautsprecher schon, und damit könnte alles vorbei sein. Die Lautsprecher und das Klavier verhöhnen mich, erinnern mich an all die Male, die ich schnell von der Schule nach Hause gelaufen bin, um möglichst viel Zeit allein mit meiner Musik zu haben, bevor Dad von seiner Arbeit als Geschäftsführer eines Bastelladens nach Hause kam. Dann habe ich gesungen, wenn auch nicht laut, damit unsere Nachbarn mich nicht hören konnten.

      Ich reiße eine Landkarte von der Wand. Ich habe New York nie verlassen und werde auch kein Flugzeug mehr besteigen, um in Ägypten zu landen und Tempel oder Pyramiden zu besichtigen, oder zu Dads Geburtsort in Puerto Rico reisen und den Regenwald sehen, wo er sich als Kind oft aufgehalten hat. Ich zerreiße die Karte und lasse all die Länder, Städte und Ortschaften vor mir zu Boden flattern.

      Hier drin herrscht jetzt Chaos. Es ist, wie wenn der Held eines Fantasyblockbusters mitten in seinem vom Krieg verwüsteten Dorf steht, das von den Schurken in Schutt und Asche gelegt wurde, weil sie ihn nicht finden konnten. Nur dass statt eingestürzter Häuser und zerschmetterter Ziegel aufgeschlagene Bücher mit zerbrochenen Buchrücken auf dem Boden liegen. Ich kann das jetzt nicht in Ordnung bringen, sonst sortiere ich noch alle Bücher alphabetisch und klebe die Landkarte wieder. (Und das ist nicht nur eine Ausrede, damit ich mein Zimmer nicht aufräumen muss.)

      Ich schalte die Xbox Infinity aus, wo Cove inzwischen wiederauferstanden ist, alle Gliedmaßen an ihrem Platz, als wäre er nicht erst vor Minuten explodiert. Cove steht am Start und lässt träge seinen Stab baumeln.

      Ich muss was unternehmen. Also hole ich mein Handy wieder hervor und öffne Letzte Freunde. Ich hoffe, ich kann den Leuten, die so gefährlich sind wie Landminen, aus dem Weg gehen.

      RUFUS

      02:59 Uhr

      Hätte mich der Todesbote doch angerufen, bevor ich in dieser Nacht mein Leben versaut habe.

      Wenn der Todesbote sich gestern Nacht gemeldet hätte, hätten sie mich aus einem Traum geholt, in dem ich einen Marathon gegen ein paar Kinder auf Dreirädern verlor. Wenn der Todesbote sich vor einer Woche gemeldet hätte, dann hätte ich nicht die ganze Nacht wach gelegen und all die Nachrichten gelesen, die Aimee mir geschrieben hat, als wir noch zusammen waren. Wenn der Todesbote vor zwei Wochen angerufen hätte, hätte er die Diskussion unterbrochen, die ich mit Malcolm und Tagoe darüber führte, ob Marvel-Helden besser sind als DC-Helden (und vielleicht hätte ich den Anrufer sogar gebeten, seine Meinung dazu zu äußern). Wenn der Todesbote vor vier Wochen angerufen hätte, hätte er das eisige Schweigen durchbrochen, das ich mir auferlegt hatte, als ich nach Aimees Abschied mit niemandem reden wollte. Aber nein, der Todesbote musste ausgerechnet heute anrufen, während ich gerade auf Peck einprügelte, was dazu führte, dass Aimee ihn zu uns nach Hause schleppte, um mich mit der Sache zu konfrontieren, was wiederum dazu führte, dass Peck die Bullen rief und meine Trauerfeier ruinierte und ich jetzt vollkommen allein bin.

      Nichts davon wäre passiert, wenn der Todesbote einen Tag früher angerufen hätte.

      Ich höre Polizeisirenen und trete weiter in die Pedale. Hoffentlich hat das nichts mit mir zu tun.

      Erst nach ein paar Minuten mache ich Pause und halte zwischen einem McDonald’s und einer Tankstelle an. Es ist wahnsinnig hell, und vielleicht ist es blöd, ausgerechnet hier zu verschnaufen, aber andererseits ist die Öffentlichkeit möglicherweise das beste Versteck. Keine Ahnung, schließlich bin ich nicht James Bond und hab auch kein Handbuch, in dem steht, wie man sich am besten vor den Bösen versteckt.

      Fuck, ich bin ja der Böse.

      Auf jeden Fall kann ich nicht weiter. Mein Herz rast, meine Beine brennen und ich muss erst mal zu Atem kommen.

      Ich setze mich auf den Bordstein vor der Tankstelle. Es stinkt nach Pisse und billigem Bier. An die Wand mit den Luftdruckmessgeräten sind zwei Silhouetten gesprüht, die aussehen wie der Typ auf der Männerklotür. In orangefarbener Schrift steht darüber: Letzte Freunde –