Adam Silvera

Am Ende sterben wir sowieso


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Das waren echt geniale Zeiten. Nachdem wir Schluss gemacht hatten, wollte Aimee ihre Decke nicht zurückhaben, wahrscheinlich um mich in ihrer Nähe zu behalten, obwohl sie mehr Abstand brauchte. Als hätte ich doch noch Chancen bei ihr.

      Das Zimmer hier ist ganz anders als das Zimmer, in dem ich aufgewachsen bin – beige Wände statt grüne; zwei Betten mehr und Mitbewohner; halb so groß; keine Hanteln und Poster zu Videospielen –, aber trotzdem ist es mein Zuhause geworden und es hat mir gezeigt, dass Menschen wichtiger sind als Gegenstände. Malcolm hat diese Lektion schon gelernt, nachdem die Feuerwehr die Flammen gelöscht hatte, in denen sein Haus, seine Eltern und seine Lieblingssachen verbrannt sind.

      Wir haben hier nur das Nötigste.

      An die Wand über meinem Bett habe ich Fotos gepinnt, die Aimee von meinem Instagram-Profil ausgedruckt hat: der Althea Park, wo ich immer hingehe, um nachzudenken; mein verschwitztes weißes T-Shirt am Lenker meines Fahrrads, nachdem ich im Sommer meinen ersten Marathon gefahren bin; ein einsamer Gettoblaster in der Christopher Street, der einen Song spielte, den ich noch nie gehört hatte und seitdem auch nie wieder; Tagoe mit blutiger Nase, als wir versucht haben, uns eine spezielle Plutobegrüßung auszudenken, was total schiefging, weil wir mit den Köpfen zusammengedonnert sind; zwei Sneaker – einer in Größe 41 und der andere in Größe 43 –, weil ich neue Schuhe gekauft und nicht darauf geachtet habe, ob sie auch zusammenpassen; Aimee und ich, wobei meine Augen auf dem Foto völlig ungleich aussehen, als ob ich high wäre, was ich aber (noch) nicht war, und trotzdem ist das Bild genial, weil die Straßenlaterne einen echt schönen Schein auf Aimee wirft; Fußabdrücke im Matsch, als ich Aimee nach einer Woche Regen durch den Park gejagt habe; zwei nebeneinandersitzende Schatten, von denen Malcolm kein Foto wollte, das ich aber trotzdem gemacht habe; und noch massenhaft mehr, die ich für meine Kumpels zurücklassen muss, wenn ich von hier verschwinde.

      Von hier verschwinde …

      Ich will hier nicht weg.

      MATEO

      01:52 Uhr

      Ich bin fast so weit, dass ich loskann.

      Ich habe das Geschirr gespült, Staub und Bonbonpapier unter dem Sofa weggefegt, den Wohnzimmerboden gewischt, die Zahnpastaflecken aus dem Waschbecken geputzt und sogar mein Bett gemacht. Jetzt sitze ich wieder vor dem Laptop und habe eine größere Herausforderung vor mir: die Inschrift für meinen Grabstein in höchstens acht Worten. Wie bitte soll ich mein Leben in acht Worten zusammenfassen?

       Er starb, wo er lebte: in seinem Zimmer.

       Welch verschwendetes Leben.

       Sogar Kinder gehen größere Risiken ein als er.

      Ich muss etwas Besseres abliefern. Alle haben immer viel mehr von mir erwartet, und ich selbst auch. Dem muss ich gerecht werden. Heute habe ich zum letzten Mal die Chance dazu.

       Hier ruht Mateo: Er lebte für alle.

      Ich drücke auf Senden.

      Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Klar, ich kann es noch mal überarbeiten, aber so funktionieren Versprechen nicht, und für alle zu leben ist ein Versprechen an die Welt.

      Ich weiß, es ist noch früh am Morgen, aber ich fühle mich ganz beklommen, weil es gleichzeitig schon spät ist, zumindest für einen Todgeweihten. Ich schaffe das nicht allein, das mit dem Aufbrechen. Und Lidia werde ich bestimmt nicht in meinen Abschiedstag hineinziehen. Sobald ich hier rausgehe – und nicht falls –, werde ich Lidia und Penny besuchen, aber ich werde Lidia nichts verraten. Ich will nicht, dass sie mich schon für tot hält, bevor ich es wirklich bin, oder dass sie traurig wird. Vielleicht schicke ich ihr eine Postkarte, auf der ich ihr alles erkläre, während ich dort draußen bin und mein Leben lebe.

      Was ich brauche, ist ein Coach, der auch mein Freund sein könnte, oder ein Freund, der mich coacht. Und genau das bietet diese beliebte App, für die auf Countdown so oft Werbung gemacht wird.

      Letzte Freunde wurde für Todgeweihte entwickelt und für all die guten Seelen, die einem Todgeweihten in seinen letzten Stunden Gesellschaft leisten. Nicht zu verwechseln mit Necro, die ist nur für Leute, die auf einen One-Night-Stand mit einem Todgeweihten aus sind – die ultimative App, wenn man keine Verpflichtung eingehen will. Ich fand Necro immer ziemlich gruselig, nicht nur weil der Gedanke an Sex mich nervös macht. Aber Letzte Freunde will den Menschen die Möglichkeit bieten, sich geschätzt und geliebt zu fühlen, bevor sie sterben. Es gibt keine Nutzungsgebühr im Unterschied zu Necro, das 7,99 $ pro Tag kostet. Ein Mensch ist doch deutlich mehr wert als acht Dollar!

      Trotzdem kann man wie bei jeder neuen Freundschaft natürlich auch bei den Kontakten, die sich über Letzte Freunde ergeben, Glück oder Pech haben. Auf Countdown bin ich mal einer Todgeweihten gefolgt, die eine solche letzte Freundin gefunden hatte. Sie schrieb nur ganz selten neue Beiträge, manchmal stundenlang nicht, sodass ihre Follower irgendwann annahmen, sie sei bereits gestorben. Aber sie war noch quicklebendig und genoss ihren letzten Tag in vollen Zügen. Nach ihrem Tod schrieb die letzte Freundin eine kurze Grabrede, aus der ich mehr über das Mädchen erfuhr als durch seine eigenen Blogeinträge. Aber es läuft nicht immer so gut. Vor ein paar Monaten freundete sich ein Todgeweihter, der ein trostloses Leben geführt hatte, völlig ahnungslos mit dem berüchtigten Letzte Freunde-Serienmörder an. Das zu lesen war entsetzlich und ist einer der vielen Gründe, warum es mir schwerfällt, der Menschheit zu vertrauen.

      Ich glaube, es täte mir gut, einen solchen letzten Freund zu finden. Andererseits weiß ich nicht, ob es trauriger ist, allein zu sterben oder in der Gesellschaft von jemandem, der dir nicht das Geringste bedeutet und dem du wahrscheinlich genauso egal bist.

      Die Zeit läuft ab.

      Ich muss es jetzt einfach wagen und denselben Mut aufbringen, den Hunderttausende Todgeweihte vor mir auch aufgebracht haben. Per Onlinebanking überprüfe ich meinen Kontostand. Der Rest meines Geldes fürs College ist automatisch auf mein Girokonto überwiesen worden. Es sind nur etwa zweitausend Dollar, aber das ist mehr als genug für heute. Ich könnte zur World Travel Arena im Stadtzentrum fahren, wo Todgeweihte und ihre Gäste die Kultur und das Ambiente verschiedener Städte und Länder erleben können.

      Ich lade die App Letzte Freunde auf mein Handy. Der Download geht rasend schnell, als wäre die App ein empfindsames Wesen, das verstanden hat, was der Grund für seine Existenz ist: nämlich die Tatsache, dass jemandem nicht mehr viel Zeit bleibt. Der Bildschirm wird blau und eine graue Uhr erscheint, vor der zwei Gestalten aufeinander zugehen und sich High five geben. Dann taucht der Schriftzug LETZTE FREUNDE auf und ein Menü wird eingeblendet.

      □ Ich sterbe heute.

      □ Ich sterbe heute nicht.

      Ich klicke auf Ich sterbe heute, und eine Nachricht erscheint:

      Wir von Letzte Freunde GmbH bedauern von ganzem Herzen, dich zu verlieren. Unser tief empfundenes Mitgefühl gilt all jenen, die dich lieben, sowie jenen, die nie die Gelegenheit haben werden, dich kennenzulernen. Wir hoffen, dass du einen würdigen neuen Freund findest, der heute deine letzten Stunden mit dir verbringt. Bitte erstelle dein Profil, um ein bestmögliches Ergebnis zu erzielen.

      Zutiefst betroffen von deinem Verlust

      Letzte Freunde GmbH

      Anschließend taucht ein leeres Formular auf und ich fülle es aus.

      Name: Mateo Torrez

      Alter: 18

      Geschlecht: männlich

      Größe: 1,78m

      Gewicht: 75kg

      Ethnische Herkunft: puerto-ricanisch

      Sexuelle Orientierung: <keine Angabe>

      Beruf: <keine Angabe>

      Hobbys: