Georges Simenon

Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes


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      »Das zeigt, dass ich recht hatte. Die sind ja nicht von allein draufgekommen. Und von den sechs eingeweihten Beamten hat bestimmt keiner geplaudert. Es ist …«

      »Ja?«

      »Das erfahren Sie heute Abend. Alles in Ordnung, Monsieur Coméliau!«

      »Glauben Sie? Und wenn sich die gesamte Presse darauf stürzt?«

      »Dann gibt es einen Skandal.«

      »Sehen Sie …«

      »Ist der Kopf eines Mannes nicht einen Skandal wert?«

      Fünf Minuten später ließ Maigret sich mit dem Quai des Orfèvres verbinden.

      »Wachtmeister Lucas? … Hör mal, mein Guter! Du saust jetzt zum Sifflet in der Rue Montmartre und knöpfst dir den Chefredakteur vor! Mach ihm ruhig ein bisschen Druck! Wir müssen rauskriegen, woher er das mit Heurtins Flucht weiß! Ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass er heute früh einen Brief oder eine Rohrpostsendung bekommen hat. Du findest das Dokument und bringst es her … Alles klar?«

      »Fertig?«, fragte die Telefonistin.

      »Nein, Mademoiselle! Geben Sie mir das Citanguette …«

      Wenig später war Inspektor Dufour am Telefon.

      »Er schläft!«, wiederholte er. »Vorhin habe ich eine Viertelstunde an seiner Tür gelauscht. Er hat in seinen Albträumen gestöhnt und nach seiner Mama gerufen.«

      Als der Kommissar sein Fernglas auf das geschlossene Fenster im ersten Stock richtete, hatte er den Schlafenden so klar und deutlich vor Augen, als säße er an dessen Bett.

      Dabei hatte er ihn erst im Juli kennengelernt, als er, kaum achtundvierzig Stunden nach der Tragödie von Saint-Cloud, Heurtin die Hand auf die Schulter gelegt und leise gesagt hatte:

      »Mach keinen Ärger und komm mit, Kleiner!«

      Das war in einer bescheidenen Pension in der Rue Monsieur-le-Prince, wo Joseph Heurtin ein Zimmer im sechsten Stock bewohnte.

      »Ein guter Junge, ruhig und fleißig«, sagte die Pensionswirtin. »Nur ab und zu ein bisschen komisch.«

      »Hatte er öfter Besuch?«

      »Nein, nie. Und er war immer vor Mitternacht zu Hause, außer in letzter Zeit.«

      »Was ist da passiert?«

      »Zwei, dreimal ist es später geworden … Einmal – am Mittwoch – hat er mich um vier in der Früh aus dem Bett geklingelt …«

      Mittwoch war der Tag des Verbrechens in Saint-Cloud. Laut Pathologie war der Tod der beiden Frauen gegen zwei Uhr nachts eingetreten.

      Und sprachen nicht unwiderlegbare Beweise gegen Heurtin, die er, Maigret, größtenteils selbst zusammengetragen hatte?

      Die Villa stand an der Route de Saint-Germain, kaum einen Kilometer vom Pavillon Bleu entfernt. Dieses Lokal hatte Heurtin um Mitternacht betreten, allein, und hintereinander vier Gläser Grog getrunken. Beim Zahlen war ihm eine Karte für eine Fahrt dritter Klasse von Paris nach Saint-Cloud aus der Tasche gefallen.

      Mrs. Henderson, die Witwe eines amerikanischen Diplomaten mit guten Beziehungen zu einigen bedeutenden Familien des Geldadels, lebte allein in dem Haus, dessen Erdgeschoss seit dem Tod ihres Mannes leer stand.

      Ihre einzige Angestellte, Élise Chatrier, eine Französin, die ihre Kindheit in England verbracht und eine ausgezeichnete Erziehung genossen hatte, war mehr Gesellschaftsdame als Haushälterin.

      Zweimal die Woche kümmerte sich ein Gärtner aus Saint-Cloud um den Garten.

      Besuch gab es nur selten. Ab und zu kam William Crosby, der Neffe der alten Dame, mit seiner Frau.

      In jener Nacht – es war der 7. Juli – herrschte der übliche Verkehr auf der Landstraße nach Deauville.

      Um ein Uhr früh schlossen das Pavillon Bleu und alle anderen Restaurants und Tanzlokale.

      Ein Autofahrer gab später an, er habe gegen halb drei Licht im ersten Stock der Villa gesehen und Schatten, die sich merkwürdig bewegten.

      Um sechs Uhr kam der Gärtner, es war sein Tag. Normalerweise öffnete er geräuschlos das Gartentor und wurde dann um acht von Élise Chatrier zum Frühstück ins Haus gerufen.

      Diesmal hörte er keinen Ton. Um neun waren die Türen der Villa noch immer verschlossen. Er machte sich Sorgen und klopfte. Als er keine Antwort erhielt, lief er zur nächsten Kreuzung und sagte dem Polizisten, der dort Dienst tat, Bescheid.

      Kurz darauf wurde die Tragödie entdeckt. Auf dem Bettvorleger im Schlafzimmer lag Mrs. Hendersons Leiche, das Nachthemd blutgetränkt, die Brust von einem Dutzend Messerstichen durchbohrt.

      Élise Chatrier hatte dasselbe Schicksal ereilt, im Nebenzimmer, wo sie auf Wunsch ihrer Herrin schlief, weil diese Angst hatte, dass ihr nachts schlecht werden könnte.

      Ein barbarischer Doppelmord, vermutlich aus niedrigen Beweggründen, wie die Juristen sagen, und ziemlich scheußlich dazu.

      Überall Spuren: Tritte, blutige Fingerabdrücke auf den Vorhängen.

      Es folgten die üblichen Formalitäten: Lokaltermin, Ankunft der Experten vom Erkennungsdienst, Analysen und Autopsien.

      Maigret wurde mit der Leitung der polizeilichen Ermittlungen betraut, und er brauchte keine zwei Tage, um Heurtins Fährte aufzunehmen.

      Sie war unübersehbar! In den Fluren der Villa lag nirgends ein Teppich, und das Parkett war gebohnert.

      Ein paar Fotos genügten, um außerordentlich deutliche Trittspuren festzuhalten.

      Sie stammten von nagelneuen Schuhen mit Gummisohlen. Diese waren, um sie rutschfest zu machen, auffällig gerillt, und in der Mitte konnte man sogar noch den Namen des Herstellers und eine Seriennummer entziffern.

      In einem Schuhgeschäft am Boulevard Raspail erfuhr Maigret, dass in den letzten zwei Wochen nur ein einziges Paar in der gesuchten Größe – 44 – verkauft worden war.

      »Und zwar an einen Laufburschen mit einem Lieferdreirad. Den sehen wir oft hier im Viertel …«

      Ein paar Stunden später befragte der Kommissar Monsieur Gérardier, den Blumenhändler in der Rue de Sèvres, und entdeckte die fraglichen Schuhe an den Füßen des Laufburschen Joseph Heurtin.

      Blieb nur noch der Abgleich der Fingerabdrücke. Die Prozedur fand in den Räumlichkeiten des Erkennungsdienstes im Palais de Justice statt.

      Mit gezückten Instrumenten beugten sich die Experten darüber und kamen zu einem eindeutigen Ergebnis:

      »Er war es!«

      »Warum hast du es getan?«

      »Ich hab sie nicht umgebracht.«

      »Woher hast du die Adresse von Mrs. Henderson?«

      »Ich hab sie nicht umgebracht.«

      »Was wolltest du um zwei Uhr früh in der Villa?«

      »Weiß nicht!«

      »Wie bist du aus Saint-Cloud zurückgekommen?«

      »Bin ich nicht.«

      Er hatte ein großes, fahles, schrecklich zerbeultes Gesicht. Und rot geränderte Augen, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen.

      In seinem Zimmer in der Rue Monsieur-le-Prince wurde ein blutiges Taschentuch gefunden, und die Chemiker bestätigten, dass es menschliches Blut war, ja sie fanden sogar Bakterien, die sie im Blut von Mrs. Henderson festgestellt hatten.

      »Ich hab sie nicht umgebracht.«

      »Wen willst du als Anwalt?«

      »Gar keinen.«

      Ein Pflichtverteidiger wurde ihm beigeordnet, Maître Joly, der erst dreißig war und sehr bemüht.