Georges Simenon

Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes


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geistige Beeinträchtigung. Trotz akuter Depression infolge des seelischen Schocks voll schuldfähig.

      Dann begannen die Gerichtsferien. Eine andere Untersuchung führte Maigret nach Deauville. Für Richter Coméliau lag der Fall ziemlich klar, und die Strafkammer bejahte die Schuldfrage.

      Trotzdem: Heurtin hatte weder etwas gestohlen noch ein erkennbares Interesse am Tod von Mrs. Henderson und ihrer Haushälterin gehabt.

      Maigret hatte das Leben des Beschuldigten so weit wie möglich zurückverfolgt. Er kannte ihn in jedem Alter, innerlich und äußerlich.

      Joseph Heurtin war in Melun zur Welt gekommen. Sein Vater arbeitete damals als Kaffeekellner im Hôtel de la Seine, seine Mutter als Wäscherin.

      Drei Jahre später übernahmen die Eltern ein Bistro in der Nähe der Strafanstalt, das aber schlecht lief, und so versuchten sie es dann mit einem Gasthof in Nandy im Département Seine-et-Marne.

      Seine Schwester Odette wurde geboren, als er sechs war.

      Aus der Zeit gab es ein Foto von ihm: Im Matrosenanzug hockte er vor einem Bärenfell, auf dem ein rundliches Baby strampelte.

      Mit dreizehn versorgte er die Pferde und half seinem Vater beim Bedienen der Gäste.

      Mit siebzehn wurde er Kaffeekellner in einem eleganten Restaurant in Fontainebleau.

      Nach dem Militärdienst kam er einundzwanzigjährig nach Paris, zog in die Rue Monsieur-le-Prince und begann für Gérardier Blumen auszuliefern.

      »Er hat immer viel gelesen«, sagte der Blumenhändler.

      »Seine einzige Unterhaltung war das Kino«, behauptete die Zimmerwirtin.

      Es gab keinerlei Verbindung zwischen ihm und der Villa in Saint-Cloud.

      »Warst du früher schon einmal in Saint-Cloud?«

      »Nie!«

      »Was hast du am Sonntag gemacht?«

      »Gelesen.«

      Mrs. Henderson war keine Kundin des Blumenladens. Nichts machte ihre Villa im Verhältnis zu den Nachbarhäusern besonders anziehend für Einbrecher. Außerdem war ja auch gar nichts gestohlen worden.

      »Warum redest du nicht?«

      »Ich hab nichts zu sagen.«

      Maigret hatte einen ganzen Monat in Deauville zu tun, wo er einer internationalen Betrügerbande auf der Spur war.

      Im September besuchte er Heurtin in seiner Zelle. Und fand ein Wrack vor.

      »Ich weiß von nichts! Ich hab sie nicht umgebracht!«

      »Aber du warst in Saint-Cloud …«

      »Lasst mich doch einfach in Ruhe!«

      »Ein klarer Fall!«, befand die Staatsanwaltschaft. Und verschob den Prozess.

      Am 1. Oktober trat das Gericht nach den Ferien zum ersten Mal wieder zusammen und eröffnete die Sitzungsperiode mit dem Prozess Heurtin.

      Maître Joly war keine bessere Verteidigungsstrategie eingefallen, als ein Gegengutachten zum Geisteszustand seines Mandanten einzuholen. Der Psychiater konstatierte verminderte Schuldfähigkeit.

      »Nein, es war Mord aus niedrigen Beweggründen!«, widersprach der Staatsanwalt. »Heurtin hat nur deshalb nichts gestohlen, weil er durch bestimmte Umstände daran gehindert wurde … Er hat insgesamt achtzehnmal zugestochen …«

      Angewidert stießen die Geschworenen die herumgereichten Fotografien der Opfer von sich.

      »Schuldig in allen Anklagepunkten!«

      Da war das Todesurteil! Am nächsten Tag wurde Joseph Heurtin zusammen mit vier anderen Todeskandidaten in den Überwachungstrakt der Santé überstellt.

      Maigret haderte mit sich.

      »Hast du mir nichts zu sagen?«, fragte er, als er Heurtin besuchte.

      »Nein.«

      »Du weißt, dass man dich hinrichten wird?«

      Heurtin begann zu weinen. Die Augen in seinem bleichen Gesicht waren gerötet.

      »Wie heißt dein Komplize?«

      »Hab keinen.«

      Obwohl der Fall offiziell abgeschlossen war, besuchte Maigret ihn täglich.

      Und jedes Mal wirkte Heurtin noch ein wenig schwächer, aber gefasst, er zitterte nicht, manchmal blitzte sogar Spott in seinen Augen auf.

      Bis zu dem Morgen, an dem er in der Nebenzelle erst Schritte, dann gellende Schreie hörte.

      Da wurde Nummer 9, ein Vatermörder, abgeholt und zum Schafott geführt.

      Am nächsten Tag weinte Heurtin, der zur Nummer 11 geworden war. Aber er redete nicht. Er lag mit dem Gesicht zur Wand auf seiner Pritsche und klapperte mit den Zähnen.

      Wenn Maigret sich etwas in den Kopf setzte, war es dort längere Zeit fest verankert.

      »Der ist entweder verrückt oder unschuldig!«, sagte er zum Untersuchungsrichter.

      »Das kann nicht sein!«, widersprach Coméliau. »Außerdem ist er rechtskräftig verurteilt.«

      Doch Maigret, eins achtzig groß, breit und schwer wie ein Lastenträger in den Pariser Markthallen, ließ sich nicht beirren.

      »Erinnern Sie sich daran, dass wir nicht herausfinden konnten, wie er von Saint-Cloud wieder nach Paris gekommen ist! Er hat nicht den Zug genommen, das ist erwiesen. Er ist nicht Straßenbahn gefahren. Und zu Fuß war er auch nicht unterwegs!«

      Den Spott, den er kassierte, nahm er hin.

      »Wollen wir ein Experiment wagen?«

      »Das kann nur der Minister entscheiden.«

      Gewichtig und beharrlich sprach Maigret auch im Justizministerium vor. Und entwarf eigenhändig den Brief mit dem Fluchtplan.

      »Hören Sie! Entweder hat Heurtin Komplizen und glaubt, dass die Nachricht von ihnen stammt, oder er hat keine und wird misstrauisch, weil er eine Falle wittert. Ich bürge für ihn. Und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass er uns auf keinen Fall entkommt.«

      Man hätte das undurchdringliche, ruhige und dennoch harte Gesicht des Kommissars dabei sehen müssen!

      Es dauerte drei Tage. Maigret beschwor das Schreckgespenst eines Justizirrtums herauf und den Skandal, den dieser früher oder später nach sich ziehen würde.

      »Aber Sie haben ihn doch selbst verhaftet!«

      »Weil ich als Polizeibeamter verpflichtet bin, aus handfesten Beweisen logische Schlüsse zu ziehen.«

      »Und als Mensch?«

      »Warte ich auf psychologische Beweise.«

      »Das heißt?«

      »Dass er verrückt oder unschuldig ist.«

      »Und warum redet er nicht?«

      »Das Experiment, das ich vorschlage, wird es uns verraten.«

      Es folgten zahllose Telefonate und Konferenzen.

      »Sie setzen Ihre Karriere aufs Spiel, Kommissar! Überlegen Sie es sich!«

      »Hab ich schon.«

      Als der Häftling den Brief erhielt, zeigte er ihn niemandem, aß aber mit größerem Appetit.

      »Es überrascht ihn also nicht!«, stellte Maigret fest. »Also hat er auf so etwas gewartet. Also hat er wahrscheinlich Komplizen, die ihm die Freiheit versprochen haben.«

      »Oder er stellt sich nur dumm! Und kaum ist er draußen, entwischt er Ihnen … Es geht um Ihre Stellung, Kommissar …«

      »Und um seinen Kopf …«

      Maigret lümmelte im Ledersessel vor