geworden war. Er erinnerte sich an den Ausspruch Voltaires, daß die Menschen die Worte nur anwenden, um ihre Gedanken zu verbergen, und der Gedanken sich nur bedienen, um ihre Ungerechtigkeiten zu begründen. Gewiß, das war immer Diplomatie gewesen. Aber daß ein Mensch soviel sprach und schrieb wie Arnheim, um seine wahren Absichten hinter Worten zu verbergen, das beunruhigte ihn als etwas Neues, hinter das er kommen mußte.
53
Man führt Moosbrugger in ein neues Gefängnis
Der Prostituiertenmörder Christian Moosbrugger war, wenige Tage nachdem in den Zeitungen die Berichte über die gegen ihn geführte Verhandlung zu erscheinen aufgehört hatten, vergessen worden, und die Erregung der Öffentlichkeit hatte sich anderen Gegenständen zugewandt. Nur ein Kreis von Sachverständigen beschäftigte sich noch weiter mit ihm. Sein Verteidiger hatte die Nichtigkeitsbeschwerde angemeldet, eine neue Überprüfung seines Geisteszustandes verlangt und sonst noch einiges getan; die Hinrichtung war auf unbestimmte Zeit verschoben worden, und man führte Moosbrugger in ein anderes Gefängnis.
Die Vorsicht, die dabei angewandt wurde, schmeichelte ihm; geladene Gewehre, viele Personen, Eisenschellen an Arm und Bein: man erwies ihm Aufmerksamkeit, man hatte Furcht vor ihm, und Moosbrugger liebte das. Als er in den Zellenwagen stieg, blickte er nach Bewunderung aus und warf ein Auge in den erstaunten Blick der Vorübergehenden. Kalter Wind, der die Straße herabblies, spielte in seinen Locken, die Luft zehrte an ihm. Zwei Sekunden lang; dann schob ein Justizsoldat an seinem Hintern, um ihn in den Wagen zu bringen.
Moosbrugger war eitel; er liebte es nicht, so geschoben zu werden; er fürchtete, daß ihn die Wache stoßen, anschreien oder über ihn lachen könnte; der gefesselte Riese wagte keinen seiner Führer anzusehen und rutschte freiwillig bis an die Vorderwand des Wagens.
Er fürchtete sich aber nicht vor dem Tod. Man muß im Leben vieles aushalten, das bestimmt weher tut als das Aufhängen, und ob man ein paar Jahre mehr oder weniger lebt, darauf kommt es schon gar nicht an. Der passive Stolz eines Mannes, der viel eingesperrt worden ist, verbot ihm, sich vor der Strafe zu fürchten; aber er hing auch sonst nicht am Leben. Was hätte er daran heben sollen? Doch nicht den Frühlingswind oder die weiten Landstraßen oder die Sonne? Das macht nur müde, heiß und staubig. Niemand liebt das, der es wirklich kennt. «Erzählen können,» dachte Moosbrugger «gestern habe ich dort an der Ecke in dem Wirtshaus einen ausgezeichneten Schweinsbraten gegessen!» Das war schon mehr. Aber auch darauf konnte man verzichten. Was ihn gefreut hätte, wäre eine Befriedigung seines Ehrgeizes gewesen, der immer nur dummen Beleidigungen begegnet war. Ein wirres Geholper kam aus den Rädern durch die Bank in seinen Körper; hinter den Gitterstäben in der Türe liefen die Pflastersteine zurück, Lastfuhrwerke blieben zurück, zuweilen torkelten Männer, Frauen oder Kinder quer durch die Stäbe, von weit hinten schob sich ein Fiaker heran, wuchs, kam näher, begann Leben zu sprühen wie ein Schmiedeblock Funken, die Pferdeköpfe schienen die Türe durchstoßen zu wollen, dann lief das Geklapper der Hufe und der weiche Laut der Gummireifen hinter der Wand vorbei. Moosbrugger drehte den Kopf langsam zurück und sah wieder die Decke an, wo sie vor ihm an die Seitenwand stieß. Der Lärm draußen rauschte, schmetterte; war wie ein Tuch gespannt, über das hie und da der Schatten irgendeines Vorgangs huschte. Moosbrugger empfand diese Fahrt als Abwechslung, ohne auf ihren Inhalt viel zu achten. Zwischen zwei dunklen, ruhenden Gefängniszeiten schoß eine Viertelstunde undurchsichtig weiß schäumender Zeit. So hatte er auch seine Freiheit immer empfunden. Nicht eigens schön. «Die Geschichte mit der letzten Mahlzeit,» dachte er «dem Gefängnisgeistlichen, den Henkern und der Viertelstunde, bis alles aus ist, wird nicht viel anders sein; sie wird auch auf ihren Rädern vorwärts tanzen, man wird fortwährend zu tun haben wie jetzt, um bei den Stößen nicht von der Bank zu rutschen, und wird nicht viel sehen und hören, weil lauter Leute um einen herumspringen. Es wird schon das Gescheiteste sein, wenn man endlich von allem Ruhe hat!»
Die Überlegenheit eines Mannes, der sich von dem Wunsch zu leben befreit hat, ist sehr groß. Moosbrugger erinnerte sich an den Kommissär, der ihn als erster bei der Polizei einvernommen hatte. Das war ein feiner Mann gewesen, der leise sprach. «Schaun Sie, Herr Moosbrugger,» hatte er gesagt «ich bitte Sie einfach inständig: gönnen Sie mir doch den Erfolg!» Und Moosbrugger hatte erwidert: «Gut, wenn Sie den Erfolg haben wollen, so machen wir jetzt Protokoll.» Der Richter hatte das später nicht glauben wollen, aber der Kommissär hatte es vor Gericht bestätigt. «Wenn Sie schon nicht aus eigenem Ihr Gewissen erleichtern wollen, so schenken Sie mir doch die persönliche Genugtuung, daß Sie es mir zuliebe tun»: Das hatte der Kommissär vor dem ganzen Gericht wiederholt, sogar der Vorsitzende hatte freundlich geschmunzelt, und Moosbrugger hatte sich erhoben. «Meine volle Hochachtung vor dieser Aussage des Herrn Po Hzeikommissärs!» hatte er laut verkündet und mit einer eleganten Verbeugung hinzugefügt: «Obwohl der Herr Kommissär mich mit den Worten entlassen haben: ‹Wir sehen uns wohl nie wieder›, so habe ich doch die Ehre und das Vergnügen, den Herrn Kommissär heute wiederzusehn.»
Das Lächeln des Einverständnisses mit sich selbst verklärte Moosbruggers Gesicht, und er vergaß die Soldaten, die ihm gegenüber saßen und geradeso wie er von den Stößen des Wagens hin und her geschleudert wurden.
54
Ulrich zeigt sich im Gespräch mit Walter und Clarisse reaktionär
Clarisse sagte zu Ulrich: «Man muß für Moosbrugger etwas tun, dieser Mörder ist musikalisch!»
Ulrich hatte endlich an einem freien Nachmittag den Besuch nachgeholt, der durch seine Verhaftung so folgenschwer verhindert worden war.
Clarisse hielt den Rand seines Rocks in Brusthöhe gefaßt; Walter stand mit einem nicht ganz aufrichtigen Gesicht daneben.
«Wie meinst du das: musikalisch?» fragte Ulrich lächelnd.
Clarisse machte ein lustig beschämtes Gesicht. Unwillkürlich. Als drängte Scham bei allen Zügen heraus, und sie müßte das Gesicht lustig spannen, um sie zurück zu halten. Sie ließ ihn los. «Nun eben so» sagte sie. «Du bist doch jetzt ein einflußreicher Mann geworden!» Es war nicht immer klug aus ihr zu werden.
Der Winter hatte schon einmal begonnen und dann wieder aufgehört. Hier, außer der Stadt, gab es noch Schnee; weiße Felder und dazwischen wie dunkles Wasser die schwarze Erde. Die Sonne übergoß alles gleichmäßig. Clarisse hatte eine orangefarbene Jacke an und eine blaue Wollmütze. Sie gingen zu dritt spazieren, und Ulrich mußte ihr inmitten der wüst aufgebrochenen Natur die Schriften Arnheims erklären. Es war darin von algebraischen Reihen die Rede und von Benzolringen, von der materialistischen Geschichtsauffassung und der universalistischen, von Brückenträgern, der Entwicklung der Musik, dem Geist des Kraftwagens, Hata 606, der Relativitätstheorie, der Bohrsehen Atomistik, dem autogenen Schweißverfahren, der Flora des Himalaja, der Psychoanalyse, der Individualpsychologie, der Experimentalpsychologie, der physiologischen Psychologie, der Sozialpsychologie und allen anderen Errungenschaften, die eine an ihnen reich gewordene Zeit verhindern, gute, ganze und einheitliche Menschen hervorzubringen. Aber alles das kam in einer sehr beruhigenden Weise in den Schriften Arnheims vor, denn er versicherte, daß alles, was man nicht verstehe, nur eine Ausschreitung unfruchtbarer Verstandeskräfte bedeute, während das Wahre immer das Einfache, die menschliche Würde und der Instinkt für übermenschliche Wahrheiten sei, den jeder erwerben könne, wenn er einfach lebe und mit den Sternen im Bunde sei. «Viele behaupten heute etwas Ähnliches,» erläuterte Ulrich «aber Arnheim glaubt man es, weil man sich ihn als einen großen, reichen Mann vorstellen darf, der bestimmt alles genau kennt, wovon er spricht, selbst am Himalaja war, Kraftwagen besitzt und Benzolringe trägt, so viele er will!»
Clarisse wollte wissen, wie Benzolringe aussehen; eine unklare Erinnerung an Karneolringe leitete sie.
«Du bist trotzdem reizend, Clarisse!» meinte Ulrich.
«Gott sei Dank, braucht sie nicht jeden chemischen Unsinn zu verstehn!» verteidigte sie Walter; dann aber begann er die Schriften Arnheims zu verteidigen, die er gelesen hatte. Er wolle nicht sagen, daß Arnheim das Beste sei, was man sich vorzustellen vermöge, aber immerhin sei er das Beste, was die Gegenwart hervorgebracht habe; das sei neuer Geist! Zwar einwandfreie Wissenschaft, aber zugleich auch über