Robert Musil

Der Mann ohne Eigenschaften


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wister der eigenen Kinder aufzog, die an allen Spielen und Vergnügungen teilhaben dürfen, ehe der Augenblick kommt, wo man herauskehren muß, daß die Milch einer Mutterbrust mit Geringerem säugt als die der Ammenbrust. Soliman hatte Tag und Nacht, am Schreibtisch oder während stundenlanger Gespräche mit berühmten Besuchern zu Füßen, hinter dem Rücken oder auf den Knien seines Herrn gekauert. Er hatte Scott, Shakespeare und Dumas gelesen, wenn gerade Scott, Shakespeare und Dumas auf den Tischen herumlagen, und hatte am Handwörterbuch der Geisteswissenschaften buchstabieren gelernt. Er aß die Bonbons seines Herrn und begann frühzeitig, wenn es niemand sah, auch seine Zigaretten zu rauchen. Ein eigener Lehrer kam und gab ihm – etwas unregelmäßig wegen der vielen Reisen – Elementarunterricht. Bei alledem hatte sich Soliman fürchterlich gelangweilt und nichts so sehr geliebt wie die Aufgaben eines Kammerdieners, an denen er gleichfalls teilhaben durfte, denn das war eine wirkliche und erwachsene Tätigkeit, die seinem Tatendrang schmeichelte. Aber eines Tags, und es war noch nicht lange her, hatte ihn sein Herr zu sich rufen lassen und ihm freundlich erklärt, daß er nicht ganz das gehalten habe, was er sich von ihm versprochen hätte, daß er nun kein Kind mehr sei und daß Arnheim, der Herr, die Verantwortung dafür trage, daß aus Soliman, dem kleinen Diener, ein ordentlicher Mensch werde; weshalb er beschlossen habe, ihn von nun an genau als das zu behandeln, was er einst sein müsse, so daß er sich noch rechtzeitig daran gewöhnen könne. Viele erfolgreiche Männer – fügte Arnheim hinzu – hätten als Stiefelputzer und Tellerwäscher angefangen, worin gerade ihre Kraft gelegen habe, denn das Wichtigste sei, daß man von allem Anfang an alles ganz tue.

      Diese Stunde, wo er von einem unbestimmten Luxusgeschöpf zum Diener mit freier Station und kleinem Salär befördert worden war, richtete in Solimans Herzen eine Verwüstung an, von der Arnheim nichts ahnte. Soliman hatte die Eröffnungen, die ihm Arnheim machte, überhaupt nicht verstanden, wohl aber hatte er sie mit dem Gefühl erraten und haßte seinen Herrn seit der Veränderung, die mit ihm vollzogen worden war. Er verzichtete auch weiterhin keineswegs auf Bücher, Bonbons und Zigaretten, aber während er sich früher bloß genommen hatte, was ihn freute, bestahl er Arnheim nun mit vollem Bewußtsein und konnte sich an diesem Rachegefühl so wenig genugtun, daß er manchmal auch einfach Dinge zerbrach, versteckte oder wegwarf, die zur Verwunderung Arnheims, der sich dunkel an sie zu erinnern glaubte, nie wieder zum Vorschein kamen. Während sich Soliman derart wie ein Kobold rächte, nahm er sich aber in seinen dienstlichen Obliegenheiten und im gefälligen Auftreten ungemein zusammen. Er war nach wie vor eine Sensation bei allen Köchinnen, Stubenmädchen, Hotelangestellten und weiblichen Besuchern, wurde von ihren Blicken und ihrem Lächeln verwöhnt, von Gassenbuben spöttisch begafft und blieb es gewohnt, sich als eine fesselnde und wichtige Persönlichkeit zu fühlen, auch wenn er unterdrückt wurde. Selbst sein Herr schenkte ihm noch zuweilen einen zufriedenen und geschmeichelten Blick oder ein freundliches und weises Wort, man lobte ihn allgemein als anstelligen, gefälligen Jungen, und wenn es sich gerade so traf, daß Soliman kurz vorher etwas besonders Verwerfliches auf sein Gewissen geladen hatte, so genoß er dienstwillig grinsend seine Überlegenheit wie eine verschluckte Kugel glühend kalten Eises.

      Das Vertrauen dieses Jungen hatte Rachel in dem Augenblick gewonnen, wo sie ihm mitteilte, daß in ihrem Hause vielleicht ein Krieg vorbereitet werde, und seither mußte sie die schändlichsten Eröffnungen über ihren Abgott Arnheim von ihm entgegennehmen. Trotz all seiner Blasiertheit sah Solimans Phantasie aus wie ein Nadelkissen voll Schwertern und Dolchen, und in allem, was er Rachel von Arnheim erzählte, donnerte es von Roßhufen, und es schwankten Fackeln und Strickleitern. Er vertraute ihr an, daß er gar nicht Soliman heiße, und nannte ihr einen langen, sonderbar klingenden Namen, den er so schnell aussprach, daß sie sich ihn niemals merken konnte. Später fügte er das Geheimnis hinzu, daß er der Sohn eines Negerfürsten und seinem Vater, der tausende Krieger, Rinder, Sklaven und Edelsteine besitze, als Kind gestohlen worden sei; Arnheim habe ihn gekauft, um ihn dereinst dem Fürsten furchtbar teuer wieder zu verkaufen, aber er wolle fliehen und habe es bisher bloß deshalb nicht tun können, weil sein Vater so weit weg wohne.

      Rachel war nicht so dumm, diesen Geschichten zu glauben; aber sie glaubte ihnen, weil ihr in der Parallelaktion kein Maß des Unglaublichen groß genug war. Sie würde auch gerne Soliman verboten haben, so von Arnheim zu sprechen; aber sie mußte es sich an einem mit Grauen vermengten Mißtrauen gegen seine Vermessenheit genug sein lassen, denn irgendwie fühlte sie die Behauptung, daß seinem Herrn nicht zu trauen sei, trotz aller Zweifel als eine ungeheure, herannahende, spannende Verwicklung in der Parallelaktion.

      Es waren Gewitterwolken, hinter denen der hochgewachsene Mann in der moosbewachsenen Mühle verschwand, und ein fahles Licht sammelte sich in den faltigen Grimassen von Solimans kleinem Affengesicht.

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      Lebhafte Arbeit in den Ausschüssen der Parallelaktion Clarisse schreibt an Se. Erlaucht und schlägt ein Nietzsche-Jahr vor

      Zu dieser Zeit mußte Ulrich zwei- bis dreimal in jeder Woche Se. Erlaucht besuchen. Er fand ein hohes, schlankes, schon als Raum entzückendes Zimmer für sich bereit. Am Fenster stand ein großer Maria-Theresia-Schreibtisch. An der Wand hing ein dunkles Bild, mit verschlossen leuchtenden roten, blauen und gelben Flecken darin, das irgendwelche Reiter darstellte, die anderen, gestürzten Reitern Lanzen in die Weichteile bohrten; und an der gegenüberliegenden Wand befand sich eine vereinsamte Dame, deren Weichteile sorgfältig durch ein goldgesticktes Wespenkorsett geschützt waren. Es war nicht einzusehen, warum man sie ganz allein an diese Wand verbannt hatte, denn sie hatte offenbar der Familie Leinsdorf angehört, und ihr junges gepudertes Gesicht sah dem des Grafen so ähnlich wie eine Fußstapfe in trockenem Schnee einer Fußstapfe in nasser Lehmerde. Ulrich hatte übrigens wenig Gelegenheit, das Gesicht des Grafen Leinsdorf zu betrachten. Der äußere Verlauf der Parallelaktion hatte seit der letzten Sitzung einen solchen Aufschwung genommen, daß Se. Erlaucht niemals dazukam, sich den großen Gedanken zu widmen, sondern seine Zeit mit dem Durchlesen von Eingaben, mit Besuchern, Unterredungen und Ausfahrten verbringen mußte. So hatte er schon eine Aussprache mit dem Ministerpräsidenten, eine Unterredung mit dem Erzbischof, eine Besprechung in der Hofkanzlei gehabt und einigemale im Herrenhaus mit den Mitgliedern des Hochadels und der Nobelbourgeoisie Fühlung genommen. Ulrich war diesen Erörterungen nicht zugezogen worden und erfuhr nur soviel, daß man auf allen Seiten mit starken politischen Widerständen der Gegenseite rechne, weshalb alle diese Stellen erklärten, die Parallelaktion desto kräftiger unterstützen zu können, je weniger sie darin genannt würden, und sich vorläufig nur durch Beobachter in den Ausschüssen vertreten ließen.

      Erfreulicherweise machten diese Ausschüsse von Woche zu Woche große Fortschritte. Sie hatten, wie es in der gründenden Sitzung beschlossen worden war, die Welt nach den großen Gesichtspunkten der Religion, des Unterrichts, des Handels, der Landwirtschaft und so weiter eingeteilt, in jedem Ausschuß saß schon ein Vertreter des entsprechenden Ministeriums, und alle Ausschüsse widmeten sich bereits ihrer Aufgabe, daß jeder Ausschuß im Einvernehmen mit allen anderen Ausschüssen auf die Vertreter der ressortzuständigen Körperschaften und Volksteile warte, um deren Wünsche, Anregungen und Bitten zu erfassen und dem Hauptausschuß zuzuleiten. Auf diese Weise hoffte man, ihm die «hauptsächlichsten» moralischen Kräfte des Landes geordnet und zusammengefaßt zuströmen zu lassen, und hatte schon die Genugtuung, daß dieser schriftliche Verkehr anwuchs. Die Zuschriften der Ausschüsse an den Hauptausschuß konnten sich bereits nach kurzer Zeit auf andere Zuschriften berufen, die dem Hauptausschuß bereits geschickt worden waren, und begannen mit einem Satz zu beginnen, der von einem zum andern Mal wichtiger wurde und mit den Worten anfing: «Unter Bezugnahme auf diesstellige Zahl Nummer soundsoviel, beziehungsweise Nummer soundso, gebrochen durch römisch...», worauf wieder eine Zahl folgte; und alle diese Zahlen wurden mit jeder Zuschrift größer. Das hatte schon etwas von gesundem Wachstum an sich, und dazu kam, daß auch die Gesandtschaften auf halbamtlichem Wege über den Eindruck zu berichten begannen, den die Kraftäußerung des österreichischen Patriotismus auf das Ausland mache; daß bereits die fremden Gesandten vorsichtig Gelegenheit suchten, um sich Auskunft zu holen; daß aufmerksam gewordene Volksabgeordnete sich nach den Absichten erkundigten; und die private Tatkraft sich in den Anfragen von Geschäftshäusern zu äußern begann, die sich die Freiheit nahmen, Anregungen zu unterbreiten, oder um einen festen Anhaltspunkt für die Verbindung ihrer Firma mit dem Patriotismus ersuchten. Ein Apparat