Sie hob den Kopf und suchte mit dem Blick. Manchmal sucht sie so nach etwas, was sie schweben läßt. Wenn sie sich nach einer Idee für ein neues Objekt sehnt. Sie schaute mich an. Ich weiß, daß sie etwas zusammenstellen möchte, was mich darstellt. Wenn sie mich so anschaut, werde ich ganz deutlich und von Sekunde zu Sekunde mehr Loulou. Einen Moment lang schaute sie mich so stark an, daß sie mich auf einer herrlichen Liebesrutschbahn in die Wirklichkeit schubste.
Unter Mamas großem Tisch lag David. Sie hatte den Medeamantel über ihn gebreitet. Er schnorchelte und schlief wie ein Kind, weil er ein Kind ist. Es war lange her, daß ich David so ruhig gesehen hatte. Er hat sehr dichte, dunkle, aber kurze Wimpern. Sie waren nur wie eine Kontur seiner weißen, gewölbten Lider, die jetzt ausgebreitet dalagen, glatt und zart wie die Innenseite von etwas, was selten zum Vorschein kommt. Diese beiden kleinen Zeichen waren das Schönste im ganze Zimmer und bedeuteten, daß David unschuldig war. Aber ich bin das nicht.
Ich verstand es noch nicht. Ich wußte natürlich nicht, wie es weitergehen würde. Ich konnte nicht ahnen, daß der häßliche, lasche Kenneth in Zukunft mein einziger Trost sein würde. Gerade sah er ziemlich bedröppelt aus. Er blinzelte verwirrt ins Licht. Mama wurde nervös, weil wir so rumstanden. Als Kenneth mit der halbleeren Chipstüte raschelte, schimpfte Mama:
„Ißt du so einen Scheiß?“
Sie schaute mich wieder an, aber mit einem anderen Blick, nicht dem, der schweben macht, sondern mit einem forschenden. „Dir geht es nicht gut. Du bist ganz grün im Gesicht. Du hast den gleichen verdorbenen Magen wie David. Er hat dreimal gebrochen. Gib mir einen Kuß und leg dich schlafen.“
Das Ohr
Ich saß auf dem Klo und lackierte mir die Nägel, weil ich die Englischstunde nicht aushalte. Kristian ist der Beste in Englisch, und das ist ja schön für ihn. Aber ich denke gar nicht daran, danebenzusitzen und ihn zu bewundern. Das würde ihm auch gar nicht guttun.
Es war eine unnatürlich lange Stunde, ich mußte mir also auch noch die Fußnägel lackieren. Als ich beim rechten großen Zeh war, klingelte es. Aber dann wollte ich auch nicht gleich rauslaufen, ich machte also in aller Ruhe das fertig, was ich angefangen hatte. Ich malte sogar eine zweite Schicht drauf. Ich bewegte Arme und Beine, damit der Lack trocknete. Als ich noch damit beschäftigt war, hörte ich ein Geräusch. Das kleine Fenster unter der Decke war gekippt. Ich stellte mich barfuß mit meinen blauen Zehennägeln auf die Klobrille und schaute hinaus. Da saßen alle Jungen auf einem Schneehügel. Ich versuchte zuzuhören, aber ich konnte nur verstehen, was Kristian sagte.
„Nein, dieses Jahr wird Loulou nicht die Lucia. Nein, weil sie es selber nicht will. Sie hat es mir ausdrücklich gesagt. Sie mag es nicht, wenn ihr für sie stimmt. Sie mag nur mich. Doch, weil ich es weiß. Mhm, genau das möchte sie. Sie will, daß ich sie ganz für mich habe. Ich kann mit ihr machen, was ich will, aber ihr dürft nicht einmal für sie stimmen. Weil sie es nicht mag, habe ich doch gesagt. Kapiert ihr das nicht? Was? Åsa? Spinnst du? Soll am Ende die arme Åsa mit der Luciakrone rumlaufen und Loulou muß zuschauen? So eine Idee kannst auch bloß du haben, Arne. Ja, du bist witzig. Aber ich glaube nicht, daß Loulou das gefallen würde. Das verstehst du doch, daß das nicht geht. Du kannst ja alleine für Åsa stimmen. Bitte, meinetwegen. Und ihr anderen stimmt für überhaupt keine! Wir wählen dieses Jahr keine Lucia, das ist kindisch.“
Ich merkte wie meine Augen so schmal wurden wie bei Herrn Buster, wenn er richtig böse ist. Wenn ich lange, haarige Ohren gehabt hätte, dann hätte ich sie zurückgelegt. Sie sahen so klein und kindisch aus da unten auf ihrem Schneehaufen. Eimer, Schaufel, Förmchen. Kindergartenausflug. Das Fenster ist hoch über der Erde, es ist im zweiten Stock, ich sah also hauptsächlich Mützenbommel und keine Gesichter. Man hätte eine kleine Handgranate hineinwerfen sollen, dann hätte wenigstens nie jemand erfahren, was für dummes Zeug sie geredet haben. Über mich. ‚Ich kann mit ihr machen, was ich will.‘ Wohl weil du so wenig willst, du armer Kristian. Aber vielleicht will ich dich für etwas. Vielleicht muß ich mit deiner Hilfe meinen Willen durchsetzen … auf Arne werde ich Per ansetzen, weil er stärker ist, obwohl Arne älter ist.
In Windeseile zog ich Strümpfe und Schuhe an und steckte den Nagellack in die Tasche. Draußen traf ich Åsa. Ich griff in ihre dicken, blonden Haare, und dann flüsterte ich:
„Ich meine es gut mit dir. Ich glaube, richtig kurze Haare würden dir viel besser stehen.“
„Meinst du wirklich? Soll ich sie abschneiden lassen? Und wie? Hilf mir doch dabei. Du kannst so was so gut.“
So plapperte sie in einem fort, das Dummerchen, sie merkte nichts.
Dann gab ich Per Arnes Schultasche und sagte ihm, daß er sie in die Mülltonne legen sollte, was er auch tat. Schließlich bekam ich Kristian zu fassen. Ich drückte ihn in eine Ecke und flüsterte:
„Du glaubst wohl, daß du alles hier an der Schule bestimmen kannst?“
„Klar“, sagte er und sah erstaunt drein. „Wer denn sonst?“
„Ist ja schon gut. Dann sorge dafür, daß Danja dieses Jahr Lucia wird.“
„Die Türkin? Was soll das denn?“
„Weil ich es will“, flüsterte ich und drückte meinen Mund an seine kühle Ohrmuschel. Ich hatte am meisten darunter zu leiden. Ich hatte den ganzen Nachmittag das Gefühl, die Kühle an meinem Mund zu spüren, und als es zu verschwinden schien, mußte ich dauernd mit dem Finger an der Unterlippe danach suchen. Ich kann es nicht leiden, wenn er sich aufdrängt und mich stört.
Es war aber nicht nur Kristians Ohr an meinem Mund. Alles, was ich gemacht hatte, rumorte in mir und störte. Dummköpfe, schimpfte ich für mich und stampfte mit dem Fuß auf. Aber das half nichts. Nennt man das schlechtes Gewissen? Und weswegen? Åsa wird ihre Haare nicht wegen mir versauen. Ihre liebe gute kleine Mama Beata paßt schon auf und verteidigt sie gegen alle gemeinen Kameraden. Und Arne kommt eine Weile auch ohne Schultasche zurecht. Die Schultasche ist nicht das wichtigste an einem Menschen. Åsa und Arne schaffen das schon. Aber. Das Schlimmste …
Es ist schon öfter vorgekommen, daß mir allerlei Streiche für meine Klassenkameraden eingefallen sind. Ich mache das, weil ich es nicht haben kann, wenn sie ständig bewundernd an mir hängen. Sie würden immer an mir rummachen, wenn ich sie ließe. Aber ich wehre mich. Gegen Lucias und andere intime Abstimmungen und alles.
Aber diesmal war es zu schlimm. Auch wenn man seinen Willen durchsetzt, wird es nicht immer so, wie man gedacht hat. In Wirklichkeit macht es keinen Spaß, wenn jemand sofort aufgibt und nur leidet. Wie diese dumme Danja!
Kristian, diesem Unglücksvogel, glückt ja alles. Diesmal glückte es ihm zu gut. Als wir auf kleinen Zetteln eine Lucia wählen sollten, merkte ich, wie gehorsam er war, mein Sklave. Danjas Name erschien auf der Tafel und dahinter jede Menge Striche. Da glaubte sie, daß sie eine richtige Lucia werden würde, so eine, wie ich sonst bin. Wie kann man bloß so dumm sein! Sie kriegte sich gar nicht mehr ein, als immer wieder ihr Name genannt wurde. Sie saß völlig unbeweglich mitten drin, und erst glaubte sie es, aber dann wußte sie nicht mehr, was sie glauben sollte. Das nenne ich gelungen! So ein gehorsames Opfer. Alle, die Bescheid wußten, waren wie hungrige Wölfe und fraßen ihre Unruhe bei lebendigem Leib – und genossen es. Ich saß da wie ein Zombie und lächelte mit halb geschlossenen Augen. Wehr dich halt! Das muß ich auch. Oder willst du eine Märtyrerin werden wie die richtige Lucia?
Aber Danja saß nur da, weder tot noch lebendig. Sie konnte sich offenbar nicht bewegen. Schließlich ertönte ein dumpfer Schrei, und sie floh aus dem Klassenzimmer.
Da zeigte es sich, daß es doch einige völlig ahnungslose Mädchen mit reinen Herzen gab, die in einer anderen und besseren Welt lebten als die Jungen. Es waren die kleinen, grauen Mädchen, die nie und nirgends Lucia werden. Aber jetzt war ihre Stunde gekommen. Sie standen auf und empörten sich und verteidigten sich und ihresgleichen gegen uns. Alle mußten sie anschauen. Ihnen hatten wir doch gar nichts tun wollen! Ich hatte gar nicht daran gedacht, daß sie existierten, außer vielleicht als Publikum.
Jetzt verbündeten sich also diese allzu Gewöhnlichen mit Danja. Sie meinten, daß