Jón Svensson

Wie Nonni das Glück fand


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      Dann las ich aber auch die persisch-arabischen Wundermärchen, die man „Tausend und eine Nacht“ nennt. Das ging leichter. Durch das Lesen dieser Märchen entwickelte sich meine Phantasie sehr, ja fast ins Unbegrenzte. Ferner vertiefte ich mich in die herrlichen isländischen Sagas, aus dem Goldalter der altisländischen Literatur. Sie machten auf mein junges Gemüt einen unauslöschlichen Eindruck. Sogar mit den unvergleichlichen Eddaliedern versuchte ich Bekanntschaft zu machen. Sie überwältigten mich durch ihre grossartige Poesie, obwohl ich eher ein Ahnen als ein Verstehen ihres goldenen Wertes hatte.

      Dann aber kam ein Buch an die Reihe, das stärker als alle andern auf mich wirkte und meinem Gemütsleben eine gänzlich neue Richtung gab: es war dies ein schöner Auszug aus der bekannten Weltgeschichte des italienischen Geschichtsschreibers Cantù. Das Buch war in meine Muttersprache übersetzt und in leichter volkstümlicher Form gehalten.

      Es standen dort wundervolle Berichte über die europäischen Länder und Völker. Ich las sie das eine Mal nach dem andern in grösster Spannung und mit einem wahren Heisshunger. Und als ich mit diesem Studium zu Ende gekommen war, war mir plötzlich eine neue Welt aufgegangen.

      Ich entdeckte hier zum ersten Mal in meinem Leben, dass es auf der Erde noch andere Länder gab als die Insel Island. Bis jetzt war nämlich Island für mich sozusagen die ganze Welt gewesen. Nun aber hatte sich mein Blick plötzlich ins Riesige erweitert.

      Es gab drüben, jenseits des grossen Atlantischen Meeres — in weiter, weiter Ferne — eine Menge Länder und Reiche, die noch viel grösser und schöner waren als meine Heimatinsel. Und es gab Völker dort, die viel mächtiger und älter waren als unser isländisches Volk.

      Da war Skandinavien, England und Deutschland, Spanien, Österreich, Frankreich und Italien, und noch viele andere dazu. In England war eine Riesenstadt, die London hiess. Dort wohnten mehr Menschen als in ganz Island.

      In Deutschland war ein weltberühmter Fluss, den man den Rhein nannte. Er floss dahin zwischen blühenden Weinbergen und lieblichen Hügeln, auf welchen lauter Rosinen wuchsen. Auf jedem Hügel hoch oben standen Burgen und Schlösser. Da musste ich unbedingt hin!

      In Frankreich war eine Stadt, die Paris hiess. Das war eine der glänzendsten Städte der Welt. Dort hatte Napoleon gelebt, der grosse Kriegsheld. In Frankreich hatte auch die Jungfrau von Orléans gelebt. Ihre Geschichte hatte mich tief ergriffen.

      In Österreich waren so viele Völker, dass man sie kaum zählen konnte. — In Italien lag Rom, die berühmteste aller Städte der Welt. Und da war der Petersdom und viele andere wunderbare Bauten. Und dort brannte die Sonne so stark, dass die Menschen braun wurden und ihre Haare schwarz. — In Spanien war ein Zauberschloss, das Alhambra hiess, und auch dort gab es viele Rosinen und viel süssen Wein.

      Kurz, diese neue gewaltige Zauberwelt draussen entzückte mich, und dieses Entzücken verwandelte sich allmählich in ein leidenschaftliches, ungeheuer grosses Verlangen, in diese weite Welt hinauszureisen. Ich wollte diesen Zauber mit eigenen Augen schauen und die Länder und Völker draussen kennen lernen.

      Meine Heimatinsel kam mir jetzt vor, wie wenn sie sich ausserhalb der bewohnten Welt befände. Tatsächlich lag sie am Ende der Welt ganz droben am nördlichen Polarkreis, wie verloren an der nördlichsten Grenze des Atlantischen Meeres.

      Ja, hinaus musste ich unbedingt. Diese mächtigen Reiche und diese zahlreichen Völker musste ich sehen. Mein Verlangen wurde so gross, dass ich es nicht mehr loswerden konnte. Ich dachte daran Tag und Nacht. Ich sann und überlegte, wie ich meinen grossen Plan verwirklichen könne.

      Endlich meinte ich, das Richtige gefunden zu haben: Draussen auf dem Meere, gerade vor unserem Haus, lagen jeden Sommer eine Menge fremder Schiffe vor Anker. Das Vernünftigste wäre wohl, so dachte ich mir, in meinem Kahn aufs Meer hinanszufahren, das eine oder andere der fremden Schiffe zu besteigen, mich dem Kapitän als Schiffsjungen anzubieten und so die grosse Weltreise anzufangen.

      Doch als ich bald darauf meinen Eltern den „schönen“ Plan mitteilte, wollten sie zu meinem Erstaunen nichts davon wissen. Und so musste ich also zu meinem Leidwesen das ganze Vorhaben aufgeben. Mein Verlangen aber, die grosse Reise zu machen, wurde immer stärker.

      Die Zeit verstrich, und ich fuhr fort, mit unermüdlichem Eifer aus meinen Büchern mir neue Kenntnisse zu verschaffen.

      Mein Herumtummeln draussen in Gottes freier Natur gab ich aber dabei nicht ganz auf.

      Doch die grosse Reise in die weite Welt hinaus war und blieb für mich die Hauptsache.

      Der goldene Schimmer, welcher über den Abenteuern meines Wunderbuches „Tausend und eine Nacht“ lag, verbreitete sich auch über die fernen Länder, die ich so sehnsüchtig zu besuchen wünschte.

      Ich sah sie immer strahlend und leuchtend in einem zauberhaften, goldenen Glanze.

      Und was konnte mir nicht alles begegnen in dieser Zauberwelt! — Vielleicht würde ich dort ähnliche Abenteuer erleben wie die kleinen arabischen Prinzen in meinem Märchenbuche ...

      Ja, wer konnte wissen, was da alles mit mir geschehen würde! Vielleicht würde ich, wie einige von ihnen, ein Königreich gewinnen ...

      In meiner glühenden Phantasie schien mir alles möglich.

      2

      Die Mutter gibt einen guten Rat

      Eines Tages ging ich zu meiner Mutter und sprach eingehend über die Sache mit ihr. Als sie alles gehört hatte, sagte sie mir unter anderem:

      „Ich kann dein Verlangen gut verstehen, Nonni. Du hast so viel Schönes über die grosse Welt draussen gelesen. Es ist ganz natürlich, dass du das alles auch sehen möchtest.“

      „Aber, Mutter“, fragte ich sie, „gibt es denn kein Mittel, um diese grosse Reise in die weite Welt hinaus zu machen?“

      Auf diese Frage gab sie mir eine Antwort, die einen tiefen Eindruck auf mich machte.

      „Wenn ein Mensch“, sagte sie, „einen heftigen Wunsch hat, gerade wie du jetzt, und wenn das, wonach er sich sehnt, nicht etwas Böses, Schädliches oder Törichtes, sondern etwas Gutes oder wenigstens etwas Vernünftiges ist, so kann er es immer erlangen. Es gibt ein unfehlbares Mittel dazu.“

      Man wird verstehen, wie aufmerksam ich bei diesen Worten wurde. In grösster Spannung bat ich meine Mutter, mir dieses Mittel mitzuteilen. Sie erwiderte:

      „Das will ich gern tun, Nonni. Es ist etwas sehr Einfaches und Leichtes. Wenn das, was man sich wünscht, so ist, wie ich vorher sagte, dann braucht man nur sich an Gott zu wenden und ihn darum zu bitten. Gott ist allmächtig. Er kann uns alles geben. Er ist auch unendlich gut und will uns nur Gutes tun. Er hat uns sogar ausdrücklich versprochen, uns alles geben zu wollen, um was wir ihn bitten würden.“

      Hier machte meine Mutter eine kleine Pause und warf mir einen mütterlich lieben, aber auch ernsten Blick zu. Dann fuhr sie fort:

      „Wenn du also, mein kleiner Nonni, ein so grosses Verlangen darnach hast, in die weite Welt hinauszufahren, dann brauchst du nur den lieben Gott darum zu bitten. Er wird deine Bitte ganz sicher erhören.“

      Mit aufgerissenen Augen schaute ich meine Mutter an, wusste aber vor lauter Erstaunen nicht, was ich sagen sollte. Denn, was sie mir da mitgeteilt hatte, war so wundervoll, dass ich es kaum glauben konnte. Ich fürchtete, ich habe sie vielleicht nicht richtig verstanden.

      Sie schien meine Gedanken zu erraten und erzählte weiter:

      „Was ich dir eben gesagt habe, Nonni, ist wahr. Du kannst dich ruhig darauf verlassen. Ich will es dir aber etwas näher erklären.

      Wie ich dir sagte, gibt Gott uns alles, um was wir ihn bitten, vorausgesetzt, dass es etwas Gutes und Vernünftiges ist. Aber merke dir wohl: Gott hat eine merkwürdige Eigentümlichkeit: er lässt die Menschen auf die Erhörung oft lange warten, zuweilen sogar sehr lange.

      Wenn wir also etwas von Gott erreichen wollen, da kommt es für uns vor allem darauf an, dass wir Geduld haben, und dass wir mit unserer