Es wurde mir schwindelig.... Ich war unfähig, auch nur ein Wort herauszubekommen....
Nach einer kleinen Pause fragte mich meine Mutter:
„Und nun, Nonni, was sagst du dazu? Hast du Lust, diese Gelegenheit zu benutzen?“
Mit grösster Anstrengung, meiner Ergriffenheit Herr zu werden, brachte ich schliesslich nur die Worte heraus:
„Mutter, wie ist das aber gekommen? Wie hängt das alles zusammen? Wie heisst das Land, wohin ich reisen soll?“
„Du hast ein Recht, danach zu fragen, mein lieber Nonni. Ich will dir nun auch alles sagen:
Du weisst ja, dass ein katholischer französischer Priester in Reykjavik wohnt. Er heisst Baudoin und ist der einzige Katholik auf ganz Island. Als junger Priester ist er von Frankreich hierher gekommen.
Er kennt unsere Familie ein wenig; denn vor nicht langer Zeit ist er hier im Nordlande gewesen. Bei der Gelegenheit kam er auch zu mir. Du warst damals nicht zu Hause. Er fragte mich nach meinen Kindern, und dann wurde auch von dir gesprochen. Er ist ein ausgezeichneter Mann und hat auf uns alle hier im Haus den besten Eindruck gemacht.
Jetzt aber kommt die grosse Sache, Nonni.
Heute habe ich von Herrn Baudoin ein Schreiben bekommen. Darin erzählt er mir sehr merkwürdige Dinge.
Er schreibt, dass er vor kurzem einen Brief erhalten hat von einem vornehmen und sehr angesehenen französischen Grafen aus der Stadt Avignon.
Dieser Graf, schreibt er, sei ein sehr gottesfürchtiger, guter Mann. Er kenne Island, die Geschichte und die Literatur des Landes und habe infolgedessen ein grosses Interesse und eine grosse Liebe zum isländischen Volk.
Um diese seine Zuneigung für Island zu beweisen, habe er den dringenden Wunsch, ein paar isländische Knaben zu sich nach Avignon kommen zu lassen. Er habe sich deshalb an ihn, den Herrn Baudoin nämlich, gewandt, um ihn zu bitten, ihm zwei solche Knaben ausfindig zu machen und sie in seinem Namen nach Avignon einzuladen.
Er verspricht von seiner Seite, für sie sorgen zu wollen, wie wenn sie seine eigenen Kinder wären. Er werde sie studieren und christlich erziehen lassen, und zwar in einem der besten Institute des Landes, wo die Söhne der vornehmen französischen Familien studieren und erzogen werden. Er werde über sie wachen und, wie gesagt, für sie in jeder Beziehung sorgen.
Dies alles schreibt mir der Herr Baudoin in seinem Briefe“, sagte meine Mutter.
Dann machte sie eine Pause und liess ihren Blick auf mir ruhen. Ich merkte wohl, dass jetzt etwas sehr Wichtiges komme. Und ich täuschte mich nicht, denn nach einer Weile fuhr sie fort:
„Am Schlusse seines Schreibens, Nonni, wendet der Herr Baudoin sich an mich mit dem Vorschlag, ob ich wohl Lust habe, meinen Sohn, den kleinen Nonni, von dem ich ihm damals bei seinem Besuch bei uns erzählt habe, nach Südfrankreich, zum vornehmen Grafen in Avignon reisen zu lassen.
Also Nonni, von den beiden isländischen Knaben, welche zu dem Grafen in Avignon eingeladen sind, bist du der eine!
Selbstverständlich werde ich, wie immer, so auch besonders jetzt, in dieser überaus wichtigen Angelegenheit dir gänzliche Freiheit lassen. Du selbst sollst entscheiden, ob du dieses Angebot des französischen Edelmannes annehmen willst oder nicht. Aber, merke es dir wohl, du stehst hier vor einer sehr wichtigen Entscheidung.“
Hier machte meine Mutter wieder eine Pause und schaute mich fragend an. Ich war aber noch immer so ergriffen und so verwirrt, dass ich kaum imstande war, etwas Vernünftiges zu sagen.
Die Mutter merkte es wohl. Sie fuhr deshalb bald fort:
„Mein lieber Nonni, im Briefe des Herrn Baudoin steht noch etwas, was sich auch noch auf dich bezieht und was dich interessieren wird. Der französische Graf hat nämlich fünf Bedingungen in Bezug auf die Wahl der beiden isländischen Knaben gemacht. Ich will sie dir mitteilen:
Erstens sollen die beiden Knaben zwölf Jahre alt sein. Das trifft für dich zu, denn du bist jetzt zwischen zwölf und dreizehn.
Zweitens will er nur solche Knaben, die von blühender Gesundheit sind. Auch das passt auf dich; denn deine Gesundheit ist gut und lässt überhaupt nichts zu wünschen übrig.
Drittens verlangt er, dass man Jungen auswähle, die Lust und Fähigkeit zu höheren Studien haben.
Viertens will er nur solche Knaben, die noch unschuldig und unverdorben sind. Von verdorbenen Jungen will er nichts wissen.
Endlich, als fünfte Bedingung, verlangt er, dass die Knaben aus einer guten Familie sind.
„Und nun, Nonni“, fuhr meine Mutter fort, „jetzt möchte ich dir die Frage stellen: Was meinst du selber zu dieser Einladung des französischen Grafen? Hast du Lust, sie anzunehmen? Das ist wohl die wichtigste Frage, die dir bis jetzt in deinem ganzen Leben gestellt worden ist.
Bevor du mir aber deine Antwort gibst, bitte ich dich um eines: bleibe erst ruhig auf deinem Stuhle hier neben mir sitzen, warte ein wenig und denke erst eine Weile nach. Wenn du dir dann alles gut überlegt hast, dann erst sage mir deine Antwort: entweder ja oder nein.
Was du wählen wirst, das wirst du bekommen. Wenn du nein sagst — und das darfst du ja tun —, nun gut, dann wirst du weiter hier bei mir bleiben. Ein anderer Junge wird dann statt deiner eingeladen werden. Wenn du aber ja sagst, dann wirst du nach ungefähr drei Wochen von hier abreisen. So steht es im Briefe des Herrn Baudoin.
Nach kurzer Zeit wird hier im Hafen ein kleiner dänischer Segler eintreffen. Der wird bei uns eine Zeit lang liegen bleiben; dann fährt er nach Kopenhagen ab.
Auf diesem kleinen Schiffe wirst du Island verlassen. Es wird dich über das grosse Atlantische Meer bis zur ersten Haltestelle deiner langen Reise bringen, nämlich nach Kopenhagen, der Hauptstadt Dänemarks. Dort wirst du ans Land gehen und einige Tage dich ausruhen — bei dem Bischof der dortigen Katholiken.
Dieser Herr soll dann für deine Weiterreise von Kopenhagen nach Avignon sorgen. Das hat der französische Graf schon im voraus mit ihm abgemacht.
Und nun, Nonni, jetzt weisst du genug, um dich entscheiden zu können. Also überlege dir die Sache, und erst wenn du dich entschieden hast, gibst du mir deine Antwort.“
Ich lehnte mich zurück im Stuhle und fing an zu überlegen, so wie ein kleiner zwölfjähriger Wildfang zu überlegen imstande ist.
Es wäre nun gewiss zu erwarten gewesen, dass ich sofort frisch und freudig in ein jubelndes Ja hätte ausbrechen müssen. Denn jetzt sollte mein Gebet erhört und mein grosses Verlangen, in die weite Welt hinauszureisen, erfüllt werden.
Aber das durfte ich ja nicht. Ich sollte ja nach der Weisung der Mutter mich zuerst eine Weile ruhig verhalten und nachdenken....
Also verhielt ich mich ruhig — aber nur äusserlich; denn die wunderbare Mitteilung meiner Mutter hatte mich, wie schon gesagt, dermassen ergriffen, dass mein ganzes Innere erschüttert und aufgewühlt war.
Doch ich machte ernste Versuche, zu überlegen und nachzudenken: ich dachte an den vornehmen französischen Grafen in Avignon, an die herrliche Gegend dort, an die Palmbäume, die Feigen, die Apfelsinen, die brennende Sonne des Südens, das grosse, vornehme Gymnasium, die vielen frisch-fröhlichen französischen Knaben mit ihren schwarzen Augen und gebräunten Gesichtern.
Meine Gedanken schweiften herum in einer mir gänzlich neuen, wundervollen Welt, der Märchenwelt des sonnigen Südens.
Ich dachte an die höheren Studien, die dort betrieben wurden, an die griechische und lateinische Sprache, an die Meisterwerke Homers und Virgils und der vielen andern weltberühmten griechischen und römischen Schriftsteller, die ich jetzt lesen sollte.
Ich hatte ja, wie früher bemerkt, mehrere dieser unsterblichen Werke in der kleinen Bibliothek meines Vaters gesehen und auch einiges davon in isländischer Übersetzung gelesen.
Ich dachte an die höhere Bildung, die ich mir in Avignon unter der Leitung gelehrter Professoren erwerben sollte.... Eine glänzende Zukunft