Inger Gammelgaard Madsen

Letzte Umarmung - Roland Benito-Krimi 3


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nicht sehen, also, falls die dort geparkt haben ...«

      »Wissen Sie, ob irgendwelche Gegenstände verschwunden sind? Waren hier Wertsachen?«

      »Nee, das glaub ich nicht. Wir sind doch nur arme Bauern.« Sie lächelte gezwungen.

      »Hier sieht es aber nicht besonders arm aus!« Er hatte bemerkt, dass alles neu war, von den Möbeln über die Wände und Fenster bis hin zur Decke.

      »Der Hof hat vor ein paar Jahren gebrannt. Das Wohnzimmer und die Küche sind fast bis auf den Grund niedergebrannt. Das war schrecklich. Wir haben um unseren eigenen gefürchtet, der so dicht dran ist. Glücklicherweise ist niemandem etwas passiert, und sie haben ihn mit dem Geld der Versicherung wieder aufgebaut. In den Kneipen gab es Gerede, dass sie den Hof selbst angezündet hätten, und ...«

      Sie schwieg. »Haben Sie noch weitere Fragen, ich ...«

      Roland schüttelte den Kopf. Es war für alle eine ungewöhnliche Nacht gewesen und mehr bekam er wohl jetzt nicht aus ihr heraus. Er hoffte, Kurt Olsen hatte im Krankenhaus mehr Glück gehabt, falls er überhaupt die Möglichkeit bekommen hatte, mit Signe Hovgaard zu sprechen.

      Als er allein war, ging er in die Küche zu dem dort arbeitenden Techniker. Henry Leander war ins Rechtsmedizinische Institut zurückgefahren, um die Leiche unter besseren Bedingungen gründlicher zu untersuchen. Der Küchenfußboden sah aus wie in einem Schlachthof. Der Techniker saß in der Hocke, sammelte mit einer Pinzette kleine weiße Klumpen aus der Blutlache und legte sie vorsichtig in eine Tüte. Er hielt sie Roland hin und schüttelte sie. »Vielleicht gehört einer davon dem Täter«, meinte er, als müsste er die Situation erklären. Roland schluckte ein weiteres Mal, als er plötzlich sehen konnte, dass die weißen Klumpen Zähne waren. Er merkte schnell, dass er in der Küche nur im Weg war, und sah sich stattdessen in den übrigen Räumen um. Es war unmöglich zu sagen, ob etwas gestohlen worden war. Nur Signe Hovgaard konnte das feststellen, aber als er in das Büro kam, das Albert Hovgaards Arbeitszimmer sein musste, sah er, dass die Tür eines soliden Metallschranks offen stand. An der Wand daneben hing eine Medaille an einem rot-weißen Band. Er untersuchte sie näher. Albert Hovgaard war offenbar Schütze. Pistolenschütze. Einer der begabteren Sorte, der eine Goldmedaille gewonnen hatte. Es war kein Safe, wie er zunächst angenommen hatte, sondern ein Waffenschrank für Pistolen, in dem sie laut Gesetz aufbewahrt werden sollten. Er war leer. Auch die Munition fehlte. War es den Dieben gelungen, den Schlüssel zu finden, oder hatten sie den Besitzer gezwungen, ihn herauszugeben und aufzuschließen? In den meisten Schützenvereinen war die Standardpistole ein 22-Millimeter-Kaliber, wusste er, aber vielleicht hatte Albert Hovgaard andere und möglicherweise stärkere Waffen? Waren die das Ziel der Einbrecher gewesen, wussten sie etwas von dem Waffenschrank? Es waren also bewaffnete Mörder auf der Flucht. Plötzlich fühlte er sich todmüde.

      In drei Stunden sollte er im Präsidium sein. Es lohnte sich kaum, nach Hause zu fahren und wieder ins Bett zu gehen.

      3

      Anne Larsen fuhr wütend den Laptop runter. Knallte ihn krachend zu. Auch heute war nichts zu finden. Es war hoffnungslos! So lange hatte sie von einem Alltag ohne Arbeit und Verpflichtungen geträumt, wie in ihren Teenagerjahren, als sie ihre Zeit dafür verwendet hatte, auf Demonstrationen für Gerechtigkeit zu kämpfen, leere Häuser zu besetzen und überhaupt eine aktive Autonome in Nørrebro zu sein. Jetzt langweilte sie sich, weil sie nicht mit dem Fahrrad zur Redaktion fahren konnte. Die Zeiten hatten sich geändert. Und wie!

      Eigentlich wusste sie genau, dass es so nicht weitergehen konnte. Als sich zusätzlich zu einer ohnehin schon schweren Zeit für die Zeitungsbranche auch noch die Finanzkrise ankündigte, war nicht mehr viel zu machen. Die Krise kam unaufhaltsam über den Atlantik aus den USA angerollt – wie alles mögliche andere – McDonald’s, Hip-Hop, Inlineskates und Skateboards. Wenn es over there schlecht lief, würde es garantiert auch auf Europa abfärben. So klang es jedenfalls in allen Medien von Journalisten, Finanzleuten, Wirtschaftswissenschaftlern, Zukunftsforschern und anderen Weltuntergangspropheten. Sie wurden dafür verantwortlich gemacht, dass sie durch ihren mangelnden Glauben an die Zukunft mit einer self-fulfilling prophecy die Finanzkrise verstärkten. Aber das war ein heißes Thema. Es verkaufte Zeitungen. Alle wollten wissen, wie es am nächsten Tag wohl aussehen würde. Mit dem Wohnungsmarkt, den Banken, den Aktien – dem Arbeitsmarkt. Vielleicht bliesen sie die Krise auf, vielleicht auch nicht. Aber jetzt waren viele Arbeitsplätze abgebaut, mehrere Unternehmen zwangsversteigert und viele Angestellte gefeuert worden. Hatten sie also übertrieben? Und das Schlimmste stand noch bevor, prophezeite man.

      Die Stimme von Redakteur Ivan Thygesen hatte gezittert, als er ihnen mitteilte, dass die Redaktion schloss. Er war sehr bewegt gewesen, so hatte sie ihn noch nie zuvor gesehen. Er selbst hatte geplant, in den Vorruhestand zu gehen, aber er hatte sein ganzes Leben lang in der Zeitungsbranche gearbeitet, alle Tages- und teils Nachtstunden mit Schreiben und Vermitteln verbracht, kaum Urlaub gemacht oder Zeit gehabt, sich ein Hobby für sein Rentnerdasein zu suchen. Was tat man, wenn das Arbeitsleben vorbei war?

      Kamilla hatte das meiste Glück. Sie war seit der Beerdigung ihrer Mutter im letzten Oktober nicht sie selbst gewesen. Von einem auf den anderen Tag kündigte sie, weil sie einen Job als Werbefotografin in einem Fotostudio in der Nørrestraße bekommen hatte. Das war der Beruf, zu dem sie ausgebildet war – nicht zur Pressefotografin, hatte sie gegen die Proteste von ihnen allen argumentiert. Es gab zwei andere Fotografen, mit denen sie zusammenarbeiten sollte, und Anne verstand die Entscheidung gut, obwohl sie enttäuscht darüber war, dass Kamilla sie alle verlassen würde. Sie selbst zurücklassen würde. Sie waren doch so etwas wie Freundinnen geworden, die zusammenhielten und sich in allem unterstützten. Dennoch gab es etwas, über das Kamilla nicht offen gesprochen hatte. Irgendetwas war bei der Beerdigung im Herbst passiert, das sie verändert hatte und worüber sie nicht reden wollte. Nicht mal mit ihr. Es tat weh, dass Kamilla ihr Vertrauen nicht erwiderte. Aber vielleicht lag es an all dem, was sie durchgemacht hatte. Natürlich bekam man Angst, Vertrauen zu zeigen und sich zu sehr zu öffnen. Dann war sie abgezogen, bevor die Finanzkrise und der Tumult richtig ausbrachen. Aber wie auch immer – sie wären ja ohnehin voneinander getrennt worden, so wie es nun gekommen war. Es hätte sich nur um ein paar Monate gehandelt. Das Tageblatt war aufgelöst und sie war arbeitslos. Die nächsten sechs Monate war sie auf sich allein gestellt und sollte selbst einen neuen Job finden, hatten sie bei ihrer Arbeitslosenversicherung gemeint, bei der sie im Verbund Journalistik, Kommunikation und Sprache glücklicherweise Mitglied war. Nach diesen sechs Monaten würde sie ein Wiedereingliederungsangebot vom Jobcenter bekommen, aber hatte sie das Pech, keine Arbeit zu finden, was sie momentan noch bezweifelte, würde sie die Möglichkeit in Erwägung ziehen, Fortbildungskurse zu besuchen und sich weiterzubilden. Zu was, wusste sie noch nicht, aber es würde bestimmt etwas mit Kommunikation zu tun haben, obwohl angekündigt wurde, dass die kommenden Jahre noch härtere – fast brutale – Medienjahre werden würden und dass die Medienbranche in vier Jahren nur noch halb so groß sein würde. Viele gefeuerte Journalisten waren in ganz andere Branchen gewechselt, um die Unsicherheit zu umgehen. Einige waren Taxifahrer geworden, andere Unternehmensberater oder etwas ganz anderes – aber wo konnte man sich sicher fühlen?

      Sie war am Kiosk an der Ecke gewesen, um ein paar Zeitungen zu kaufen. Trotz allem gab es noch einige. Die Zeitungskonzerne hatten sich gegenseitig aufgekauft. Leider hatte niemand das Tageblatt im Visier gehabt. Ein kleines Käseblatt voller Werbung. Soviel sie wusste, war Thygesen bei ein paar Besprechungen gewesen, aber das hatte nie zu einem Verkauf geführt, der sie vielleicht hätte retten können. Bald gab es wohl nur noch eine einzige Zeitung, die das ganze Land abdeckte – bis auch die der digitalen Welt unterlag.

      Langsam blätterte sie in der Zeitung, während sie den Blick über die Spalten gleiten ließ. Taufen, Hochzeiten, Jubiläen und Todesanzeigen auf der gleichen Seite. Ein Überblick über die Lebensphasen. Sie warf einen schnellen Blick auf den Stapel alter Tageblätter auf dem Fußboden. Plötzlich fand sie das Design zutiefst altmodisch im Vergleich zu den anderen Zeitungen auf dem Tisch. Andere Redaktionen hatten ihr Layout in der Krise im Kampf um die Leser erneuert. War es nur das, was sie verkehrt gemacht hatten? Dass sie sich nicht erneuert hatten? Hätte sie Thygesen vorschlagen sollen, Danny Cramers Werbeagentur zu kontaktieren und ihn um Hilfe für ein neues, junges Design und modernere Farben zu bitten?