Inger Gammelgaard Madsen

Letzte Umarmung - Roland Benito-Krimi 3


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ins Bett kroch. Daher hatte er sich auf das Sofa im Wohnzimmer gelegt, wo Angolo ihn sofort gefunden hatte. Er war sechs Monate alt und das niedlich Welpenhafte war verschwunden, sodass man nun sehen konnte, was für ein feiner Schäferhund er werden würde. Roland hatte sich eisern gegen Irenes Wunsch gewehrt, er solle Hundeführer werden, also war das Polizeihund-Training aufgegeben worden. Trotzdem ging Irene mit Angolo zum Training und die Erziehung des Hundes war tadellos. Besonders wenn Irene die Kommandos gab, aber er hatte sich auch sofort auf den Boden neben das Sofa gelegt, als Roland nachdrücklich Platz! gesagt hatte. Auch Salvatore interessierte sich für Angolo und liebte es, mit zum Training zu kommen. Er hatte die Erlaubnis, über Weihnachten und Neujahr zu bleiben. Tante Giovanna hatte es ihm voller Freude erlaubt. Sie war diejenige, die auf dem Aufenthalt bei ihnen in Dänemark bestanden hatte. Er versuchte, nicht an die Absicht dahinter zu denken. Mit dieser Mission war er nicht viel weiter gekommen. Es war nicht leicht, mit Salvatore darüber zu sprechen. So waren fünfzehnjährige Jungen halt. Sie waren der Meinung, schon erwachsen zu sein und alles zu wissen. Man konnte ihnen nichts mehr beibringen. Aber er sah aus, als hätte er sich eingelebt und hinterfragte nicht, warum er so plötzlich in den ›Urlaub‹ im kalten Norden geschickt worden war, daher ließ Roland die Sache vorerst auf sich beruhen. Jetzt war der Schnee gekommen. Massenweise. Mehr als Salvatore jemals in Neapel gesehen hatte. Das genoss er. Vielleicht wurden sie ihn nie mehr los – so war das oft in einer Familie. Er lächelte müde. Es war ein Vergnügen, ihn hier zu haben. Seine Muttersprache war wieder aufgefrischt worden, sodass er fast so flüssig italienisch sprach wie Salvatore, der ihm in vieler Hinsicht ähnelte. Die gleichen schwarzen Augen, der gleiche nervige Wirbel auf der rechten Seite, der das Haar immer in die Stirn fallen ließ. Den hatten sie von Rolands Vater geerbt. Die Erinnerung an ihn löste tief in ihm das Gefühl eines schlechten Gewissens aus. Es wurde ein bisschen dadurch erleichtert, der Familie jetzt helfen zu können. Das hätte er nicht gekonnt, wenn seine Mutter nicht mit ihm nach Dänemark geflohen wäre, als sein Vater von der Camorra getötet worden war. Und es war gerade Italien und besonders Neapel, von dem Salvatore dringend wegmusste. Von dem System, wie sich die Mafia in Neapel nannte.

      Gedankenversunken war er einen Umweg gefahren, den er mit Müdigkeit entschuldigte. Er konnte sich selbst auf die einfachsten Dinge kaum konzentrieren, obwohl er sich mit Kaffee abgefüllt hatte, seit er um acht hier eingetroffen war, aber er wachte abrupt auf, als es fest an der Tür klopfte und der Beamte Kim Ansager eintrat. Er hatte die hässliche Angewohnheit zu klopfen und hereinzustürmen, ohne auf eine Antwort zu warten. Warum sich dann überhaupt die Mühe machen zu klopfen? Er blieb in der Türöffnung stehen und hing mit den Armen daran wie ein Affe. Ein Brillenaffe. Er schob die schwarze Vintage-Brille, die fast schon Kultstatus hatte, mit einem Finger auf ihren Platz auf der Nase und sah so aus, als wäre er schon auf dem Sprung zurück in sein eigenes Büro. Das ließ auf eine wegen des Hochbetriebs kurze Nachricht schließen. Keine Zeit für Smalltalk. Die Finanzkrise beeinflusste auch das Präsidium. Die Krisenzeiten ließen bei denen, die ihre Arbeit verloren hatten, die Kreativität erblühen, hatte er in der Zeitung gelesen, aber es gab auch die, die sich mithilfe krimineller Kreativität durchschlugen. Die Anzahl der Einbrüche und der räuberischen Überfälle war drastisch gestiegen.

      »Die Kriminaltechnik hat Übereinstimmungen mit Fingerabdrücken von zwei anderen unaufgeklärten Einbrüchen in Ostjütland gefunden. Die kriminaltechnische Zentralstelle hat sie durch die AFIS-Datenbank laufen lassen, dort aber keinen Treffer gelandet. Die Täter sind offenbar neu in der kriminellen Szene. Jedenfalls keine früheren Verdächtigen oder Vorbestraften.«

      »Nein, hier bei uns nicht. Haben sie es bei Interpol versucht?«

      Kim Ansager zuckte mit den Schultern. »Davon geh ich mal aus.«

      »Davon gehst du aus? Hier geht’s um Mord! Das ist nicht nur ein unbedeutender Raubüberfall. Darauf hast du die hoffentlich aufmerksam gemacht!«

      Kim nickte verärgert. »Natürlich. Glaubst du nicht, du solltest heimfahren und ein bisschen schlafen, du klingst so ...«

      »Hat sich wegen des Autos niemand gemeldet? Die Diebe müssen doch in einem Fahrzeug angekommen sein, bei diesem Winterwetter waren sie wohl kaum zu Fuß unterwegs.«

      »Vielleicht sind sie auf Skiern gekommen!«

      »Im Ernst jetzt, Kim!«

      »Aber es gab keine Spuren von Reifenabdrücken oder von anderen Fahrzeugen. Es hat die ganze Nacht und am Morgen kräftig geschneit, und wir können ja kein Auto suchen, das wir nicht kennen. Kurt hat der Presse gesagt, dass sie gerne nach Zeugen suchen dürfen und dass die Leute uns kontaktieren sollen, falls sie Montagabend und -nacht etwas Verdächtiges gehört oder gesehen haben.«

      »Okay. Gut, dass sich Kurt darum gekümmert hat.«

      Plötzlich lächelte Kim. »Hast du übrigens gehört, dass das Tageblatt dichtgemacht hat? Nun gibt’s eine nervige Journalistin weniger.« Er grinste schadenfroh und war wieder weg.

      Roland schloss die Augen. Gott, wie er Schlaf brauchte. Sie sollten sich wohl trotz allem nicht über die Finanzkrise beklagen. Dadurch hatten sie mehr Arbeit, aber viele andere hatten die Krise nicht überstanden. Kleine und mittelständische Unternehmen, denen die Bank plötzlich den Kredithahn zugedreht hatte, trotz des Finanzpakets der Regierung, das genau das hätte verhindern sollen. Und nun hatte es dem Tageblatt offenbar auch das Genick gebrochen. Anne Larsen war also nicht länger eine Plage. Er hatte sich tatsächlich schon gewundert, wo sie in der Mordnacht abgeblieben war. Normalerweise tauchte sie noch vor ihnen auf, als könnte sie Blut riechen. Das können Vampire ja. Über den Vergleich lächelte er grimmig. Erst kamen die Freude und die Erleichterung, dann ein anderes Gefühl. Ärger? Obwohl sie – milde ausgedrückt – scheißnervig gewesen war, hatten sie viele kreative Zusammenstöße gehabt, die von Zeit zu Zeit einen frischen Wind in die Ermittlungen und die Aufklärung gebracht hatten. Würde er sie vermissen? Er stand auf und zog sich eine Jacke an. Nein, natürlich nicht.

      Der Schnee lag hoch bis zum Fenster und verwandelte das Licht im Büro in ein weiches, gedämpftes Schimmern. Es war in Dänemark wirklich Winter geworden. Er fror schon, wenn er nur hinaussah, zog seinen Lammfellmantel und die Handschuhe an und schlang den Schal dreimal um den Hals. Ein Gespräch mit den Anwohnern konnte nicht länger aufgeschoben werden. Jemand musste ein Fahrzeug bemerkt haben, und so lange jemand sich noch gut erinnerte und eine nähere Beschreibung liefern konnte, die die Fahndung voranbrachte, könnte das helfen, die Täter zu erwischen. Das Fluchtauto wäre ein guter Anfang. Es würde ihn sicher auch ein bisschen aufmuntern, raus aufs Land zu kommen.

      5

      Der Mann vor der Tür sah nicht so aus, als gehörte er in diese kalte Klimazone. Er wirkte in dem weißen Schnee wie fehl am Platz, aber Gunda Hansen konnte leicht erkennen, dass es nicht einfach an einer Überdosis Solarium lag. Die südeuropäischen Züge waren deutlich. Er war nicht besonders groß, seine Haare waren fast schwarz, genauso wie die Augen, die Stimme war tief und Ehrfurcht gebietend, aber angenehm und akzentfrei.

      »Gunda Hansen?«

      »Ja.«

      Er zeigte seinen Ausweis. Um ihn entziffern zu können, musste sie ein wenig näher herangehen. Sie hatte ihre Brille nicht mitgenommen, als es an der Tür geklingelt hatte. Die eine Socke wurde nass, als sie auf die Treppe trat.

      »Kriminalkommissar Roland Benito. Darf ich einen Augenblick rein in die Wärme kommen?«, fragte er mit einem freundlichen, aber müden Lächeln und einem schnellen Blick auf ihre nasse Socke.

      »Wir haben nichts von dem gesehen oder gehört, was letzte Nacht passiert ist, daher ...« Sie wollte die Tür wieder schließen, aber der Kriminalkommissar schaffte es, die Hand dazwischen zu stecken und der Blick, den er ihr zuwarf, war nicht misszuverstehen.

      »Wir müssen mit allen Nachbarn sprechen; auch wenn sie nichts gesehen oder gehört haben. Ich fange nun bei Ihnen an, weil Sie der Straße am nächsten wohnen.«

      Gunda öffnete die Tür und warf einen schnellen Blick nach draußen, bevor sie wieder zumachte. Aber wie gewöhnlich war niemand zu sehen. Sie zog die Socken aus und steckte ihre kalten Füße in ein Paar Lammfell-Hausschuhe.

      »Ist Ihr