Inger Gammelgaard Madsen

Letzte Umarmung - Roland Benito-Krimi 3


Скачать книгу

hatte sich Anne maßlos über sie geärgert, aber dann hatte sie eingesehen, dass es eigentlich ganz praktisch war, jemanden zu haben, der den Trupp unter Kontrolle halten konnte. So war das doch immer mit Herdentieren. Es musste einen Leiter, einen Anführer geben. Meistens war dieser wohl männlichen Geschlechts, aber die Männer in dieser Herde hatten nicht den Mut, sich ihr entgegenzustellen.

      »Tut mir sehr leid, Frau Jansen. Das ist meine Mutter, die gerade bei mir wohnt. Ich muss wohl ein ernstes Wörtchen mit ihr reden.«

      »Ihre Mutter! Sollte sie nicht erwachsen genug sein, um zu wissen, dass ein solches Benehmen in unserem Wohnblock inakzeptabel ist?!«

      Anne atmete tief durch und versuchte sich zu beherrschen. Aber es war nun einmal ihre Mutter, auf die sie wütend war, weil die Alte ja Recht hatte. Sie lächelte begütigend. »Soweit ich das hören kann, amüsieren die sich doch einfach – ganz gewiss ein wenig zu lautstark.« Gleichzeitig überlegte sie, wer wohl zu Besuch sein mochte, mit dem ihre Mutter so viel lachen konnte.

      »Ja, gerade tun sie das, aber Sie hätten sie heute Vormittag hören sollen. Flaschen haben geklirrt und es wurde in einer Sprache herumgebrüllt, die ich nicht kenne. Wenn das welche von diesen Kanaken sind, die Sie zu Besuch haben, dann ...«

      Anne wollte Frau Jansen gerade daran erinnern, dass der mächtigste Mann der Welt tatsächlich farbig war, als oben aus der Wohnung wieder lautes, schallendes Gelächter ertönte.

      »Entschuldigen Sie mich«, murmelte sie und nahm die letzten Stufen mit einem großen Satz.

      »Was zum Teufel geht hier vor?«, rief sie und knallte die Tür mit einem Krachen hinter sich zu. Das konnte Frau Jansen ganz bestimmt auch hören, nun stand sie wohl unten in ihrem hässlichen tapezierten Flur und lächelte triumphierend. Der Couchtisch war mit leeren Bierflaschen übersät und ein Aschenbecher aus dünnwandigem Glas sah aus, als würde er wegen all der Zigarettenstummel, die hineingepresst worden waren, gleich platzen. Auf dem Tisch lag bereits Asche verstreut, aber bestimmt hauptsächlich, weil man nicht länger imstande war zu treffen. In dem engen Wohnzimmer waren fünf Menschen beisammen. Auf dem hellen Zweipersonensofa saß Rose in einem roten Velours-Hausanzug, zusammen mit zwei jungen Männern, die sich neben sie gezwängt hatten. Ein weiterer saß, eine Bierflasche auf der Armlehne balancierend, im Sessel. Zwei andere, noch mit Mänteln bekleidet, saßen auf dem Boden. Es wurde schlagartig still, und Rose, die gerade heftig an ihrer Zigarette zog, beeilte sich zu inhalieren und lächelte schief, während der Rauch zwischen den Lippen, die heute ungeschminkt waren, entwich. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, nur ein kleines bisschen vorzeigbarer auszusehen. Vielleicht war sie überrumpelt worden. Als Anne am Morgen zum Vorstellungsgespräch gegangen war, hatte sie noch geschlafen, und Anne sah, dass die Decke und das Kopfkissen auf dem Boden hinter dem Sofa lagen.

      »Entschuldigung, sind wir zu laut?«, näselte Rose. »Willst du ein Bier haben?« Sie kramte im Kasten, der auf dem Boden neben dem Sofa stand.

      »Nein, ich will kein Bier! Und die Party ist jetzt vorbei! Was in aller Welt bildest du dir ein? Wer sind die?« Sie zeigte auf die jungen Männer, die sie erschrocken ansahen.

      »Ja, aber Annchen, dann versuchen wir halt, leise zu sein!« Sie sagte etwas zu den Jungen, was Anne nicht verstand. Die lächelten und nickten ihr zu. Einer von ihnen erhob sich vom Fußboden und streckte die Hand zum Gruß aus. Er wollte etwas sagen, aber Anne verschränkte die Arme und schaute ihre Mutter anklagend an.

      »Ich hab ihnen nur erzählt, wer du bist.« Sie lächelte verlegen. Wenn sie nicht so betrunken wäre, hätte sie die Situation wohl besser begriffen.

      »RAUS!«, brüllte Anne und wandte sich schnell zur Tür um wie ein Wetterhahn, der von einem heftigen Wind gedreht wird. »Packt zusammen und verschwindet!« Sie öffnete die Tür sperrangelweit.

      Ihre Mutter sah sie unruhig an und sagte zu den jungen Männern etwas in einem ernsten Ton. Nur einer von ihnen lachte und schüttelte den Kopf, der Betrunkenste von ihnen, die anderen gingen gesenkten Hauptes aus der Tür.

      »Nehmt euren Scheiß mit!«, brüllte sie erneut und deutete auf die leeren Flaschen, die verstreut herumlagen, als ob ein Orkan gewütet hätte. Der letzte junge Mann sammelte schnell die Flaschen ein und stellte sie in den Kasten. Er sah sie nicht an, als er an ihr vorbei zur Tür ging. Sie knallte sie fest zu, bevor er ganz draußen war, sodass ihm fast der Bierkasten aus den Händen fiel.

      Rose erhob sich unsicher wie ein neugeborenes Fohlen, wollte offensichtlich protestieren, hatte aber wohl keine Kraft, das zu verhindern, was passierte. »Gilt das auch für mich? Soll ich auch verschwinden?«, fragte sie mit zorniger, belegter Stimme.

      »Ja, sollst du. Aber setz dich erst mal hin, ich muss mit dir über das hier reden.«

      Rose gehorchte und zog erneut an der Zigarette. Anne setzte sich in einen Sessel und sah verzweifelt auf den Couchtisch, auf dem Brotkrümel, Asche und verschüttetes Bier in kleinen Klecksen zu einem dünnen Brei zusammenflossen. Offenbar hatten sie zu dem Bier Brötchen gegessen. Die aufgerissene leere Bäckertüte lag ebenfalls mitten im Schmutz. Sie musste gerade mal eben rückwärts von zehn bis eins zählen.

      »Mama«, sagte sie mit ruhiger Stimme, aber mit noch größerer Verachtung, als ohnehin immer in diesem Wort gelegen hatte. »Wie kommst du darauf, dass du hier Feste feiern kannst, ohne mich vorher zu fragen? Meine Nachbarn sind wütend und das ist nicht das erste Mal. Ich habe vorher schon Verwarnungen vom Vermieter bekommen und die letzte lautete, dass ich nächstes Mal rausgeworfen werde.«

      Ihre Mutter lächelte schief und warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, was? Du hast ja auch immer reichlich gefeiert, und ...«

      »Das ist nicht das Gleiche«, unterbrach sie, »das erste Mal war die Einweihungsfeier, und ich hatte einen Zettel im Treppenhaus aufgehängt, dass es wohl ein bisschen lauter werden könne und ich hoffen würde, dass alle das verstehen. Das zweite Mal habe ich einfach ein bisschen zu laut Musik gehört, aber die Nachbarn – besonders die unter mir – sind so ...« Sie bemerkte, dass ihre Mutter immer noch lächelte, als würde sie kein Wort von dem glauben, was sie sagte. Sie gab auf. »Und wen hatten wir nun zu Besuch? Ich wusste nicht, dass du andere Sprachen als ›Nørrebroisch‹ kannst.

      Rose streifte die Asche von der Zigarette ab. »Natürlich kann ich Litauisch. Ich hab’s ein bisschen gelernt, als ich bei der Familie deines Vaters wohnte. Denk dran, du bist dort geboren. Deine Großeltern haben mich zu Hause rausgeschmissen, als sie entdeckten, dass ich schwanger war. Ich war denen total egal. So mit seiner eigenen Tochter umzuspringen!« Der Blick suchte vergebens nach Mitleid in ihrem.

      »Du hast Recht. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm«, entgegnete sie bitter. »Dann waren deine Gäste also aus Litauen?«

      Ihre Mutter leerte die Flasche und stellte sie auf den Boden neben das Sofa, wo der Bierkasten gestanden hatte. Es sah aus wie eine Gewohnheit, und Anne wagte es nicht, sich vorzustellen, wie ihre Wohnung in Nørrebro wohl aussah.

      »Also, es ist nicht nett von dir, dich so aufzuführen, Annchen. Der, der dich begrüßen wollte, heißt Adomas, er ist dein Cousin, die anderen sind Kumpels, die er mitgebracht hatte.«

      »Mein Cousin! Du lädst einfach meinen Cousin ein, ohne mir das zu erzählen!«, rief Anne mit abgrundtief vorwurfsvoller Stimme.

      Ihre Mutter wedelte mit der Hand, wie um eine Fliege zu verjagen. »Nee, nein. Die waren wahrhaftig nicht eingeladen, die ...«

      »Woher kannten die dann meine Adresse?«

      Rose seufzte laut. »Adomas hatte vor einiger Zeit gesagt, er wolle mich gerne besuchen. Er hat hier in Jütland auf einer Baustelle gearbeitet, aber jetzt ist sie wegen des Wetters stillgelegt, und daher wollte er mich in der Zwischenzeit besuchen. Gestern hat er dann mitgeteilt, dass er mit einigen Kumpels unterwegs ist, und daher hab ich ihm deine Adresse gegeben, weil ich auf dem Weg hierhin war. Wäre ja dumm, wenn sie nach Kopenhagen gefahren wären, wenn ich ...«

      »Okay, und das hast du mir also gestern nicht erzählt? Was, wenn ich dir nicht erlaubt hätte, hierzubleiben?«

      »Ich wusste