beinahe sicher, dass sie diejenige war, die in dem Leichensack gelegen hatte, obwohl sie ihr Gesicht nicht gesehen hatte. Plötzlich kam sie ihr unheimlicher vor als die weißen Baute-Masken. Eine noch eindrücklichere Erinnerung an den Tod in Venedig.
»Wie kannst du mit dieser Maske Witze machen, Kasper. Das war ihre! Das war die, die ich gesehen habe … tot.«
»Du hast das tote Mädchen gesehen?«
Sie nickte und konnte die Panik unter der Haut spüren.
Kasper legte schnell einige zusammengefaltete Hemden in seinen Koffer und nahm sie in den Arm.
»Wieso bist du auch da runtergegangen, Schatz? Warum hast du mich nicht geweckt? Das mit der Katze, du weißt schon.«
Sie bemühte sich vergeblich um ein Lächeln.
»Wir kannten sie doch nicht, Sara. Und was können wir tun?«
Sie verbarg das Gesicht an seiner Schulter. »Was ist denn mit meiner Tasche?«, murmelte sie in den weichen Baumwollstoff des T-Shirts, das nach Kasper duftete. Klammerte sich an ihn und an etwas, das ihre Gedanken von dem Anblick der Toten ablenken könnte.
»Ich laufe runter zur Bar und hör mal, ob sie sie gefunden haben. Hast du Wertsachen da drin, außer Kreditkarten, die wir sperren lassen, falls sie weg ist?«, fragte er.
Was war in der Tasche? Das Ganze rotierte wie eine Zentrifuge in ihrem Kopf.
»Ich glaube nicht, ich … doch! Mein Pass! Wir hatten ihn doch gerade von der Rezeption zurückbekommen. Verdammt noch mal, mein Pass ist in der Tasche!«
»Wir finden sie«, versprach Kasper.
***
3
Kasper Dupont hatte aggressiv gewirkt, als sie frühmorgens durch seine Haustür getreten waren und ihn befragt hatten, ob er wüsste, wo sich seine Frau aufhielt. Vielleicht klang es auch, als ob sie ihn verdächtigten, sie versteckt zu halten, aber war dieser Verdacht so weit hergeholt? Ihre Eltern hatten sie nicht gesehen, sie hatten auch nicht gehört, dass sie aus der Gerichtspsychiatrie geflohen war. Nach dem, was geschehen war, sprachen sie nicht mehr mit ihrem Schwiegersohn. Dass er Sara nicht glaubte und sie nicht unterstützte, war die Erklärung der Mutter für den Zusammenbruch ihrer Tochter; natürlich hatte Sara Recht, wenn sie sagte, dass sie ihren kleinen Sohn nicht getötet hatte. Sie liebte ihn über alles.
Während Isabella Munch, die einzige Frau in Rolands Team versuchte, den Mann wieder zu beruhigen, guckte sich Roland, den der Wutausbruch völlig überrascht hatte, das Bild des Sohnes an. Ein gelungenes Porträtfoto, das in einem Montana-Regal mit so vielen Fächern stand, dass es an ein Labyrinth erinnerte. Der Junge trug einen hellblauen Strampler mit kleinen weißen Kaninchen und hatte die spezielle tiefblaue Augenfarbe von Babys. Der Fotograf – sicher der Vater selbst – hatte einen besonderen Blick eingefangen, der vor Neugier und Unschuld strahlte. Rolands Zwerchfell zog sich zusammen; wie überleben Eltern es, ein Kind in diesem Alter zu verlieren? War es nicht Folter, so ein Bild herumstehen zu haben? Waren alle Erinnerungen es wert, bewahrt zu werden? In einem anderen Regelfach stand ein Foto von Sara und Kasper. Es war nicht gerahmt, sondern gegen eine silberne, venezianische Maske mit Gold und Glitzer gelehnt, als hätte man es dort vor langer Zeit hingestellt und vergessen. Das Paar saß eng aneinander geschmiegt in einer Gondel mit dem Ponte di Rialto im Hintergrund. Mitten von der Brücke hing ein riesiges Banner. Aufgrund der Distanz war der Text nicht lesbar, aber er konnte ein Bild von zwei Masken erkennen, daher schätzte er, dass die Reise nach Venedig während des Karnevals stattgefunden hatte. Sara lehnte ihren Kopf an Kaspers Schulter, sodass die Brücke hinter ihnen sichtbar war. Ihre Haare schimmerten im Sonnenlicht wie Kupfer. Roland erinnerte sich, wie Irene dort in dem obersten Bogen der Brücke gestanden und zu ihm heruntergewinkt hatte. Damals hatte sie keine Lust auf Bootsfahrten gehabt; sie war mit Rikke schwanger und kämpfte viel mit Übelkeit. Er selbst hatte in einer gewaltig schaukelnden Gondel unten auf dem dreckigen Kanalwasser gesessen und zurückgewinkt. Seitdem waren sie nicht mehr in Venedig gewesen und nun würden sie vielleicht nie wieder dorthin zurückkehren können, wie sie es sich damals geschworen hatten. Irene blieb am liebsten zu Hause und drinnen, wo sie sich sicher war, dass sie mit dem Rollstuhl vorwärtskam.
In den meisten anderen Regalfächern standen Bücher. Hauptsächlich Fachliteratur über Fotografie, Kameras und Kinderbetreuung. Kein Hochzeitsbild, stellte er fest. Einige Erinnerungen waren es also nicht wert, bewahrt zu werden.
Kasper Dupont hatte sich auf ein beigefarbenes Ecksofa gesetzt und sich ein bisschen beruhigt. Die Arme waren demonstrativ vor der Brust verschränkt. Das Gesicht verbissen. Abwehr oder Ohnmacht.
»Sie sind Fotograf, richtig?«
»Gewesen. Jetzt bin ich Kameramann. Aber was hat das zu tun mit …«
»Wie war die Venedigreise?«, unterbrach Roland.
Kasper sah ihn verständnislos an, als ob er das Bild im Regal wirklich vergessen hatte.
»Ach, die. Das ist über ein Jahr her … Februar. Zum Karneval. Wieso fragen Sie danach?«
»Das Foto«, antwortete er mit einer Kopfbewegung dorthin. »Sie beide sehen glücklich aus.«
»Das waren wir auch. Damals. Wie konnte sie fliehen? Wo kann sie sein? Ich schwöre, dass ich sie weder gesehen noch von ihr gehört habe.«
»Isabella hat völlig Recht. Wir beschuldigen Sie selbstverständlich nicht wegen irgendetwas. Wir müssen nur Sara finden, das ist unsere einzige Aufgabe. Sie wissen also nicht, bei wem Sara vielleicht sein könnte? Jemand, zu dem sie volles Vertrauen hat und der ihr Versteck nicht verraten würde?«
»Nein, da gibt es niemanden. Alle haben ihr den Rücken gekehrt, als sie … als William gestorben ist.«
Roland nickte und setzte sich neben ihn. Isabella stand vor ihnen, ebenfalls mit verschränkten Armen, wie in einem gegenseitigen Machtkampf: Er konnte an ihrer Körpersprache ablesen, dass Kasper Dupont nicht ihr Fall war. Er wirkte auch ein wenig arrogant, zog man die Situation in Betracht, aber Roland wusste aus Erfahrung, dass einige Attitüden in solchen Krisen missdeutet werden konnten und oft nur eine Sache kaschierten: Verletzlichkeit. Der Versuch, diese zu verbergen.
»Können Sie ein bisschen von dem Tag erzählen, an dem das passiert ist?«
»Wozu? Das habe ich jetzt seit mehreren Monaten durchgemacht. Die reine Hölle. Ein Verhör nach dem anderen. Und das ändert ja nichts daran, dass William tot ist, dass seine eigene Mutter …«
Kasper ballte die Hände, sodass die Knöchel weiß wurden. Er hatte den Punkt erreicht, an dem die Trauer zu Wut geworden war. Tiefer Hass auf denjenigen, der seinen Sohn ermordet hatte. Dass der sich als die Frau entpuppte, die er liebte und gerade geheiratet hatte, musste viele widersprüchliche Gefühle ausgelöst haben. Roland verstand seinen Frust und seine Aggressivität.
»Wer hat William gefunden?«
»Zum zehntausendsten Mal: Die Babysitterin.«
»Die Babysitterin? Und wer ist das?«
»Ein junges Mädchen, das uns geholfen hat. Warum wühlt ihr darin wieder rum? Sollt ihr nicht Sara finden?« Kaspers Stimme klang mit einem Mal so erschöpft und entmutigt, dass Roland der Tatsache ins Auge sah, dass er seine Neugier an dem alten Fall verbergen musste. Er konnte darüber in dem Bericht im Präsidium nachlesen.
»Sie haben viele hübsche Dinge.«
Kasper sah ihn erneut verwundert an. »Vieles stammt von meinen Auslandsreisen, aber Sara mochte Nippes, sie …«
»Ihnen fehlt nicht zufällig ein weißer Buddha? Eine Steinfigur?«
»Buddha?« Kasper sah zuerst aus, als ob er keine Ahnung hätte, wovon Roland sprach, dann nickte er plötzlich. »Da war einer, den Sara von einer Freundin bekommen hatte, als sie mit William schwanger war … sie hatten angefangen, zusammen Yoga zu machen und zu meditieren, und die Figur wurde ein Teil dieses … Rituals. Sie hat sie mitgenommen, glaube ich …«
»Wie heißt diese Freundin?«