Inger Gammelgaard Madsen

Gestohlene Identität - Roland Benito-Krimi 5


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wer, glauben Sie, hätte ihr helfen sollen?« Isabella steckte die Hände in die Jackentasche. »Sie vielleicht?«

      Lærke sah schnell zu ihr. »Ich? Warum in aller Welt hätte ich ihr raushelfen sollen, wenn ich finde, dass sie genau die richtige Hilfe bekommt, dort wo sie ist … war. Ich finde, es ist schrecklich, dass sie nun ohne Behandlung ist.«

      Roland glaubte ihr; der überrumpelte Ausdruck war echt. Sie richteten alle drei die Aufmerksamkeit auf die Tür, als sie lautlos geschlossen wurde, aber nicht lautlos genug. Jemand hatte gerade den Raum verlassen.

      4

      Anne Larsen rutschte auf dem Stuhl unwillkürlich ein kleines Stückchen tiefer, als sie sah, wer durch die Tür gekommen war, obwohl sie deutlich versuchten, das unbemerkt zu tun; es waren Kommissar Roland Benito und die Beamtin. Sie erinnerte sich nicht an den Namen der jungen Blonden mit Pferdeschwanz, die nun so oft anstelle des Kriminalbeamten Mikkel Jensen der Partner des Kriminalkommissars war, dass es sehr verdächtig wirkte. Würde sie Roland nicht so gut kennen und nicht zuletzt seine liebevolle Ehrerbietung gegenüber seiner Frau, hätte sie glatt auf den Gedanken kommen können, dass zwischen ihnen etwas lief. Sie setzten sich auch ziemlich dicht zusammen, ahnte sie, auch wenn es halbdunkel war. Und das, obwohl die Beamtin mit Mikkel Jensen zusammenwohnte. Auch im Polizeipräsidium gab es Schmutz und Intrigen. Sie hatte überhaupt kein Gefühl mehr dafür, was dort vor sich ging. Nicht, seit sie ihren Job als Kriminalreporterin verloren hatte, als das Tageblatt aufgrund finanzieller Schwierigkeiten schließen musste wie so viele andere kleine lokale Zeitungsredaktionen. Damit verlor sie auch ihren Zugang zu Roland Benitos kleinem, unaufgeräumtem Büro. Aber vielleicht änderte sich das jetzt, wo sie in vollem Gange war, auf Freelancebasis etwas zusammen mit ihrem früheren Praktikanten Nicolaj zu starten. Deswegen war sie hier. Nach dem Putzjob, den sie leider immer noch beibehalten musste, um die Miete bezahlen zu können, hatte Nicolaj sie zu dem Vortrag im Scandinavian Congress Center geschickt, obwohl sie an einem anderen Artikel über die illegale Zucht von Kampfhunden arbeitete. Der Vortrag handelte von Persönlichkeitsspaltung und wie Verbrecher die Diagnose gebrauchen könnten, um das Strafmaß zu verringern. Nicolaj hatte sie geschickt, weil sie sich weigerte, an solche Krankheiten zu glauben. Sie hatten darüber diskutiert, als er ihr von dem Vortrag erzählte. »Wir haben nur eine Persönlichkeit, und die haben wir durch Gene, Erziehung und Umwelt. Wir schaffen sie selbst im Laufe des Lebens«, hatte sie gesagt. Aber nun sah sie, dass der Vortrag auch ihr Stoff zum Nachdenken und für die Arbeit als Kriminalreporterin gab. Ein Wissen, das nützlich werden könnte. Es freute sie, dass Nicolaj darauf bestanden hatte, sie teilnehmen zu lassen. Redakteur Thygesen beim Tageblatt hatte sie nie zu Vorträgen oder Kursen geschickt. Das sei nur Zeitverschwendung, meinte er. Vielleicht existierte die Redaktion deswegen nicht mehr. Sie waren einfach nicht ehrgeizig genug gewesen. Hatten den Finger nicht am Puls der Zeit gehabt.

      Sie setzte sich in die hinterste Reihe. Der Kriminalkommissar saß ganz vorne an der Tür am anderen Ende der gleichen Reihe, sodass er sich hätte vorbeugen und die Reihe entlang schauen müssen, um sie zu entdecken. Sie freute sich insgeheim darüber, nicht besonders groß zu sein, sodass sie sich gut verstecken konnte. Wenn der Beamte sie sähe, würden sie ihr Anliegen hier sicher verschieben, selbst wenn Roland natürlich nicht das Geringste von ihrer Zusammenarbeit mit Nicolaj und davon, dass sie vielleicht wieder auf dem Weg in die Branche war, ahnte. Er glaubte sicher, dass sein Quälgeist für immer weg war und zur Putzfrau verdammt. Aber was machten sie hier? Wenn sie gekommen wären, um den Vortrag zu hören, wären sie doch wohl gekommen als er anfing, jetzt war er fast vorbei. Sie konzentrierte sich wieder auf die Rednerin, als ein neues Bild von dem Projektor aufleuchtete. Anne musste zugeben, dass der Vortrag sehr interessant war, und er hatte tatsächlich auch ein wenig an ihrer Auffassung gerüttelt. Wenn so viele Forscher mit Hilfe von Scannings und Versuchen dokumentieren konnten, dass normale Menschen faktisch mehrere unterschiedliche Persönlichkeiten haben konnten, dann war das wohl so. Was war mit ihr selbst? War sie nicht mit Adomas eine andere als mit Esben und eine dritte, wenn sie mit Nicolaj zusammen war? Eine vierte, noch andere, bei ihrer Mutter, wo sie sich nicht wie die Tochter, sondern eher wie die Erwachsene fühlte? Es war ja ganz richtig, dass sie unbewusst ihr Verhalten änderte, je nachdem, mit wem sie zusammen war. Ohne schizo­phren zu sein. Nach den Schlussworten der Referentin begann sich der Raum schnell zu leeren. Anne bemerkte, dass Roland und die Polizistin sitzen blieben, und als sie aufstanden und zu der Vortragenden gingen, entgegen dem Strom, wurde sie neugierig. Vielleicht war die Therapeutin eine Betrügerin. Vielleicht sollte sie verhaftet werden, dann könnte Anne nach Hause fahren und Nicolaj sagen, dass das Ganze eine Luftnummer war. Man hat nur eine Persönlichkeit, wie sie es die ganze Zeit gesagt hatte. Sie folgte den anderen in Richtung Ausgang, von der Gruppe verdeckt, aber als der Letzte draußen war, schloss sie die Tür und ging schnell in die Hocke hinter den Stuhllehnen, unbemerkt von den drei Personen, die vorne bei der großen, weißen Leinwand standen. Aber dank der guten Akustik dieses Raumes konnte sie alles hören, was sie sagten.

      5

      Juli, ein Jahr und zwei Monate zuvor

      Sara lehnte sich auf der Sonnenliege in dem Schatten unter der Kastanie zurück und schloss die Augen. Sie liebte den Garten mit den alten Obstbäumen und den vielen Rosenbüschen. Rosen waren die Leidenschaft des Vorbesitzers gewesen. Der Garten war ausschlaggebend dafür gewesen, dass sie das Haus gekauft hatten, obwohl sie es sich damals eigentlich gar nicht hatten leisten können und es ihnen immer noch schwer zu schaffen machte.

      Der frische, fruchtige Duft der karminroten Darcey Bussell war beherrschend in der stehenden warmen Nachmittagsluft. Zum Glück gehörte er nicht zu den Düften, von denen ihr schlecht wurde. Sie biss sich auf die Unterlippe. Das Lächeln wollte nicht verschwinden. Kaspers Kuss wärmte immer noch. Er behütete sie zu sehr und wollte sie nicht allein lassen, aber er hatte erst in einer Woche Urlaub. Obwohl im Sommer viele Wiederholungen gesendet wurden, konnte der DR seinen Kameramann noch nicht entbehren. Die Aufzeichnung einer Kochsendung, die mit Lagerfeuer und Grill am Strand stattfand, musste in den Kasten. Es galt die Chance wahrzunehmen, solange die Sonne schien. Bei dem dänischen Sommer wusste man nie, wann es sich die Wettergötter anders überlegten. Aber sie hatte glücklicherweise frei. Glücklicherweise, weil sie erschöpfter war als je zuvor in ihrem ganzen Leben. Die Brüste und Brustwarzen waren so empfindlich, dass sie eine leichte, luftige Sommerbluse kaum und einen BH überhaupt nicht tragen konnte. Daher genoss sie nun, sich allen Stoffs bis auf ein orange geblümtes Bikinihöschen entledigen zu können und in dem wild wachsenden Garten zu liegen, der sie vor dem nächsten Nachbarn abschirmte. Das Thermometer war gerade auf 29,5 Grad geklettert. Vorsichtig legte sie beide Hände auf den Bauch, dort war eine kleine Beule. Diese Beule waren die zusätzlichen Kilos, die sie auf der Waage feststellen konnte. Diese Beule war die Übelkeit und alles Erbrechen wert. Diese Beule war ihr kleiner Sohn oder ihre kleine Tochter. Sie war auf Kaspers Reaktion gespannt gewesen. Vielleicht auch ein bisschen nervös. Sie hatten überhaupt nicht übers Kinderkriegen gesprochen, so gesehen war es nicht weiter geplant. Aber sie hatten auch nicht besonders viel getan, um zu verhüten, also hatte Kasper vielleicht das Gleiche gehofft wie sie. Das hatte er ganz sicher, das zeigte seine ganz überschwängliche Freude, als der Arzt bestätigt hatte, dass es nicht nur Luft im Bauch war und sie ihm zum Abendessen die Schüssel mit Kartoffelsalat gereicht und ohne große Dramatik erzählt hatte, dass er Vater werden würde. Dass sie Eltern werden würden. Erst war er verstummt, aber nicht aus Widerwillen, das sah sie sofort in seinen Augen. Er wusste bloß nicht gleich, was er sagen sollte, aber als die Neuigkeit bei ihm angekommen war, war er blitzschnell vom Tisch aufgestanden, hatte sie vom Stuhl hochgehoben und herumgewirbelt, bis ihm plötzlich aufging, was er machte und sie mit einem besorgten Blick auf ihren Bauch vorsichtig wieder absetzte. Sie hatte gelacht und ihm erklärt, dass sie nicht so zart war und der Fötus ebenso wenig. Das hatte sie mehrmals wiederholen müssen, da er nicht glaubte, dass sie während der Zeit der Schwangerschaft Sex haben konnten. Er musste doch verrückt sein, wenn er glaubte, dass sie so lange auf ihn verzichten könnte. Die Lust war nur noch größer geworden. Das passierte bei einigen – bei anderen das genaue Gegenteil, hatte sie im Internet gelesen.

      Sie zuckte zusammen, als eine Elster schäckerte und ihr Schatten über das Gras glitt. Sie flog über die Baumgruppe ans andere Ende des Gartens. Die Vögel nisteten dort, hatte Kasper beobachtet. Ansonsten hatte Sara nur dagelegen und anderen, gedämpften