zu reiten? Hier riskierte sie ja nicht viel. Wenn es Perle einfallen sollte, Dummheiten zu machen, konnte sie sich immer noch heruntergleiten lassen. Dori sagte sich das, fühlte aber dennoch ein ziemliches Herzklopfen. Sie hatte wohl schon manchmal auf Perle gesessen, aber immer nur mit Sattel und auf dem Reitplatz. Jetzt dagegen …
Dori zog ihr Dreigespann am Wald entlang, denn sie wußte, nach ungefähr fünfhundert Metern gab es dort eine Bank. Dort angekommen, kletterte sie auf die Lehne und versuchte, das eine Bein über Perles Rücken zu schieben.
„Komm näher ran, so ist es mir zu weit“, murmelte sie und bemühte sich, das Pferd an sich zu ziehen. Perle warf den Kopf.
Nein, so ging es nicht. Perle war schlau genug, sich schräg zur Bank zu stellen, und dabei linste sie frech nach hinten: „Wenn ich nicht will, kommst du nie auf mich drauf!“
Dori zog das Bein zurück. Aber die Aussicht, mit den drei Pferden den ganzen Rückweg zu Fuß machen zu müssen, trieb sie vorwärts. Und da hatte sie auch schon eine Idee. Sie sprang von der Bank herunter, schwang sich auf Sambesi, was keine Kunst war – auf das Shetti sprangen sie immer ohne Bügel, es war ja niedrig –, und trieb den kleinen schwarzen Kerl an Perle heran. Dann zog sie die Beine unter sich, stand einen Augenblick auf Sambesis Rücken – wozu hatte man denn Voltigieren gelernt – und warf sich mit dem Bauch über Perles Rücken. Die stand einen Augenblick verblüfft still, und diesen Augenblick nutzte Dori. Das rechte Bein über die Kruppe, und sie saß. Und obwohl Perle nur ein Stallhalfter trug, hatte Dori sie doch am Zügel, sozusagen jedenfalls.
„Vorwärts, Perle!“
Wahrhaftig, Perle ging. Und Sambesi ließ sich mitziehen. Sie ging links von Perle, und Dori konnte sie mit dem linken Fuß ein paarmal sanft in die Flanke schubsen. Das tat dem kleinen Pferd nicht weh, und es schien zu verstehen. Jedenfalls gingen die zwei Pferde brav nebeneinander vorwärts. Dori konnte es beinah nicht glauben. Und Donner?
Ja, Donner machte erst Ärger. Er blieb stehen und knabberte am Gesträuch des Waldrandes. Dori rief und rief nach ihm.
Schließlich dachte sie, er käme vielleicht besser mit, wenn sie nicht im Schritt dahintrödelte, sondern etwas schneller ritt. Versuchsweise puffte sie Perle mit beiden Hacken an und flüsterte: „Terrab!“ Laut zu rufen wagte sie nicht.
Und siehe da, Perle gehorchte. Sie machte ein paar Trabschritte, die Dori gut aussitzen konnte, und wurde dann von selbst schneller. Sambesi ließ sich mitziehen, und jetzt, da der Abstand zu den beiden Reitpferden größer wurde, schien Donner so zu denken, wie Dori gehofft hatte. Er setzte sich auch in Trab, holte den Abstand auf, machte ein paar Bocksprünge und galoppierte dann neben Perle her.
Dori fühlte sich wie ein Westernreiter. Nur schade, daß niemand sie sah und bewunderte.
Aber auch das sollte ihr beschieden sein an diesem herrlichen Tag des ersten Schnees. Als sie mit ihren drei Pferden den Weg zum Schloßhof hinaufgekommen war, trat gerade Großmutter aus ihrem Häuschen, den Strohbesen in der Hand. Sie wollte den Schnee vor ihrer Haustür wegfegen. Und da sah sie Dori herankommen, jetzt im Schritt. Ihr lachte das Herz.
„Fein, Dori, tüchtig! Warte, ich mach’ dir den Stall auf!“
Tante Ulle hatte in der Scheune einen Laufstall bauen lassen, für den Winter und auch, wenn mal ein Pferd nicht auf der Wiese stand, weil man es morgens zeitig brauchte oder weil man den Schmied erwartete oder den Tierarzt. Dort hinein dirigierte Großmutter zunächst Sambesi, deren Halfter sie an sich genommen hatte, und dann Donner. Dori ließ sich seitlich von Perle herabgleiten und führte sie hinterher.
„Fein hast du das gemacht, Dori“, lobte Großmutter noch einmal. „Aber warum hast du mich nicht geweckt? Ging es denn mit den dreien?“
„Gut“, sagte Dori, vergnügt und erleichtert, und erzählte Großmutter dann, wie sie auf Perle hinaufgekommen war. Großmutter lachte. Gerade erschien auch Tante Ulle im Hof, ebenfalls mit einem Strohbesen in der Hand.
„Nun nimm du auch noch einen, und dann reiten wir drei Hexen auf den Blocksberg“, sagte Großmutter. „Ach nein, ich kann ja nicht fort, ich hab’ ja einen Mann, der auf das Frühstück wartet.“
Dori mußte lachen.
„Er sollte dir das Frühstück ans Bett bringen“, rief sie, aber Tante Ulle hatte eine noch bessere Idee.
„Nicht doch! Hol ihn, Mutter, ihr seid heute alle bei mir eingeladen. Ich habe gestern abend noch Martinshörnchen gebacken.“
„Oh!“ juchzte Dori. Und dann gab sie ihrem Herzen einen Stoß und sagte: „Ich hol’ auch Peter dazu, ja?“
Sie hatte erst ganz etwas anderes sagen wollen: „Der Faulpelz kann weiterschlafen“ oder „Ihm geschieht es gerade recht, wenn er nichts abbekommt“. Aber nein, nun gerade nicht. Sie lief ins Haus und in sein Zimmer und rüttelte ihn.
„Peter, es gibt Martinshörnchen!“
Da wurde der müde Vetter sehr schnell munter.
Am Samstag war Sankt Martin. Alle Schulkinder, aber auch Größere und Kleine aus dem Kindergarten des Dorfes hatten sich versammelt, als es anfing zu dämmern. Sie alle hielten Laternen in der Hand, und jedes hatte ein Säckchen umgehängt, in das sie die Süßigkeiten hineinsammeln wollten, die sie beim Krämer, im Forsthaus, bei den Bauern und schließlich im Schloßhof zu bekommen hofften.
Jetzt kam der Heilige angeritten, in einem orangefarbenen Rock und einem silbernen Helm. Es war Frau Doktor Groß auf Perle. Sie sah wunderbar aus. Ihre dunklen Haare quollen rechts und links unter dem Helm hervor, und Perle ging unter ihr wie eine Eins. Dori sah entzückt zu ihr auf.
Davon abgesehen war sie nicht sehr entzückt von ihrer augenblicklichen Lage. Tante Ulle hatte nämlich, ehe sie zum Sankt-Martins-Zug aufbrachen, Besuch bekommen: eine junge Frau, die zwei kleine Mädchen mitbrachte, Zwillinge, etwa drei Jahre alt. Als sie hörte, daß heute Sankt Martin war, lief sie schnell zum Krämer und besorgte noch zwei Lampions. Die drückte sie ihren Töchtern in die kleinen Patschhände.
„Dori und Peter nehmen euch mit“, verkündete sie begeistert. „Ihr sollt mal was erleben, was ihr noch nie erlebt habt. Da ist etwas los!“
Ja, es war allerhand los. Der Schnee war nicht nur liegengeblieben, sondern es war noch mehr dazugekommen, und der kleine Ort wimmelte von Kindern mit Lampions.
Dori zerrte das ihr anvertraute Kind mit sich, daß dies beinah hinter ihr herschleifte, und Peter machte es ähnlich. So errcichten sie den Laternenzug und ordneten sich ein.
Gleich darauf gab es eine Panne. Ein Bauer, der mit seinem Pferd gekommen war, hielt Sankt Martin an, in dem er die Tierärztin erkannt hatte, und bat: „Bitte, bitte, steigen Sie einen Augenblick ab! Mit meiner Stute ist etwas. Sie ist –“ Seine Erklärungen gingen im Gesang der Kinder unter. Frau Groß sprang von Perle.
„Ich komme. Peter, los, sitz du auf! Gib die Kleine deiner Großmutter –“ Und schon hatte sie Mantel und Helm an Peter weitergegeben, Großmutter das Kind an die Hand gehängt und Dori Perles Zügel in die Hand gedrückt.
„Hier, führ sie, Peter ist wohl noch nicht so ganz sattelfest. Ich muß erst sehen, was die Stute des Bauern hat.“ Sie bohrte sich hinter dem aufgeregten Mann durchs Gedränge, und weg war sie.
Peter war ganz verblüfft, sich auf einmal als Sankt Martin hoch zu Roß zu befinden. Wohl war ihm nicht dabei. Immerhin sah er bald darauf Großmutters Hand am Zügel seines Pferdes.
„Fein, Peter, da kannst du zeigen, was du bei mir gelernt hast“, ermutigte sie ihn.
Das war jedoch leichter gesagt als getan. Perle wurde von dem Gesang der Kinder beunruhigt. Sie trat hin und her, schließlich fing sie an zu tänzeln. Das Kind, das an Großmutters Hand ging, kriegte Angst und begann zu weinen.
„Ruhig, ruhig, mein Kleines!“ flüsterte Großmutter und nahm das Kind hoch. „Ich passe schon auf, daß dir nichts passiert.“
Natürlich paßte sie auf. Aber ein fremdes