Marie Louise Fischer
Krach im Ferienlager
Das große Abenteuer der Freiheit
Mit Illustrationen von Walter Grieder
Saga Egmont
Krach im Ferienlager
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1958 by E. Schmidt, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711719435
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
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Revolution
Es begann an einem Tag, der genauso sonnig, so strahlend und so heiter war wie jeder andere, seit die Kinder – fünfundvierzig Jungen und fünfzehn Mädchen – ihr Zeltlager am Rande des Waldes aufgebaut und bezogen hatten. Niemand von ihnen ahnte, daß ausgerechnet an diesem ganz gewöhnlichen Dienstag in den großen Ferien – es war der 9. August – irgend etwas Bedeutungsvolles geschehen würde, obwohl nachher natürlich alle sagten, daß es einfach passieren mußte.
Es war gegen elf Uhr vormittags. Das Lagerleben rollte wie an allen Tagen, seit Hans Helbig die Führung an sich gerissen hatte, reibungslos ab. Das Frühstück war längst vorbei, die Zelte aufgeräumt und kontrolliert, jeder war mit irgendeiner ihm aufgetragenen Arbeit beschäftigt. Die Jungen, die von Hans dazu abgeordnet worden waren, sammelten zwischen den Tannen Reisig für das Feuer, andere schleppten auf einem Leiterwagen Lebensmittel aus dem Dorf herbei, im Bach wurde Wasser für die Suppe geschöpft, der Lagerplatz nach Abfällen und Papierschnitzeln durchforscht, die vergraben oder verbrannt werden sollten, Zeltschnüre wurden angezogen und gelockerte Häringe neu befestigt.
Die Mädchen saßen in Gruppen vor ihren Zelten und schälten die Kartoffeln für das Mittagessen, und während die Messer von geschickten und unbeholfenen Händen rundum geführt wurden und eine nackte Kartoffel nach der anderen in die Töpfe plumpste, standen auch die Münder keinen Augenblick still. Eifrig, aber halblaut, fast gedämpft wurde die Unterhaltung geführt, als müßte man sich vor unbefugten Lauschern hüten, und sonderbarerweise beteiligte sich die dünne, langbeinige Hertha mit dem brennend roten Schopf, die sonst gerne das große Wort führte, heute morgen überhaupt nicht an dem Gespräch; sie war ganz mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, und ihre Augen glitten immer wieder von der Arbeit fort und streiften über das Lager.
Hertha bewohnte zusammen mit der molligen, gutmütigen Anja, der wibbeligen blonden Hilde, der blassen schüchternen Resi und der kleinen Carola, genannt Rölchen, das Zelt am äußersten linken Flügel des Lagers. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick. Die Fünferzelte – zwölf an der Zahl – leuchteten weiß und rot und grau und grün gegen den dunklen Tannenwald, der das Lager nach Norden abschirmte. Die bunten Wimpel flatterten im lauen Wind, und drunten im Tal schimmerte lockend der klare See. Hübsch ordentlich standen die Zelte da, in gleichmäßigem Abstand bildeten sie einen leichten Bogen auf der Höhe des Hügels.
Alles in allem war es ein Bild fröhlichen Ferienfriedens, das sich Hertha bot; nur etwas wirkte bedrohlich – die merkwürdige Ruhe, die über dem ganzen Lager herrschte. Man hätte meinen sollen, daß sechzig Jungen und Mädchen die Luft mit Lärm und Geschrei, Lachen, Singen und Pfeifen erfüllt hätten, tatsächlich aber war fast nichts zu hören außer leisem Stimmengemurmel, einem kurzen Befehl hie und da oder einem unterdrückten Fluch.
Hans Helbig saß vor seinem Hauptquartier, dem mittelsten der fünfzehn Zelte, und besprach sich mit Liebknecht Müller, dem Lagerkoch, während er unentwegt an einem kräftigen Holzstab herumschnitzte – er konnte seine Hände nie unbeschäftigt lassen. Das Gespräch, das sich wahrscheinlich um den Speisezettel drehte, wurde immer wieder von einem von Hansens Trabanten unterbrochen, von Klaus oder Karl, den beiden K’s, wie sie im Lager genannt wurden, von Günther Furnickel oder Eberhard Brecht. Die Jungen erstatteten Hans Meldungen über ausgeführte Anordnungen oder beobachtete Mißstände und wurden stets gleich wieder mit neuen Befehlen losgeschickt.
Jetzt kam Theo Hoehmann an Hansens Zelt vorbeimarschiert, den Kopf, um den er einen recht übertriebenen Verband gewickelt hatte, hoch erhoben und mit einem Gesicht, als wenn Hans und seine Trabanten Luft für ihn wären. Auch Hans seinerseits schaute nicht auf, sondern beschäftigte sich nur noch intensiver mit seiner Schnitzerei. Theo Hoehmann war ein drahtiger kleiner Bursche mit hellem Schopf und lustigen Sommersprossen auf der Nase, der erklärte Gegner von Hans und seiner Lagerleitung. Er stand bei den anderen im Ruf, ein ziemlicher Angeber zu sein, obwohl niemand an seinem persönlichen Mut zweifeln konnte.
Während Hertha dies alles beobachtete und sich überlegte, was wohl Theos mächtiger Verband zu bedeuten hatte, lauschte sie gleichzeitig mit halbem Ohr auf die Unterhaltung der anderen.
Man sprach, wie schon allzuoft, über die plötzliche Erkrankung von Dr. Kirst, dem Lehrer der Jungen, der das Lager in allen Einzelheiten geplant und vorbereitet hatte, und von Fräulein Widemann, der Turnlehrerin, die sich am Tage vor der Abreise unglücklicherweise den Fuß gebrochen hatte. Wie immer wurde heftig darüber diskutiert, ob es richtig gewesen war, diese Tatsache den Eltern zu verschweigen und auf eigene Faust loszufahren, oder ob man doch besser und vernünftiger zu Hause geblieben wäre.
Die erste Zeit im Lager war schlimm gewesen, schlimmer als selbst die Ängstlichsten unter ihnen befürchtet hatten; jeder hatte geglaubt, nun seien die Tage der goldenen Freiheit fern von Eltern und Erziehern angebrochen, jeder hatte getan und gelassen, was ihm eben einfiel, tagsüber hatte es Zank, Streit und Unordnung und nachts Lärm und Unruhe gegeben.
Gott sei Dank, dies war nun vorbei, seit Hans Helbig mit starker Hand die Geschicke und die Leitung des Lagers an sich gerissen hatte – aber war dieser Zustand nun wirklich besser? War er wirklich gut? Das konnte keines der Mädchen aus ehrlichem Herzen behaupten.
»Wenn bloß dieser schreckliche Hans und seine Flegel sich ein bißchen besser aufführen würden!« seufzte Hilde und stach ihrer Kartoffel ein Auge aus.
»Es ist einfach ekelhaft«, stimmte ihr selbst die gutmütige Anja zu, »ewig rumkommandiert zu werden und das alles!«
»Was ist eigentlich mit Theo los?« mischte sich Hertha plötzlich in das Gespräch. »Er trägt einen dicken Verband um den Kopf.«
»Ja, hast du denn den Krach heute nacht nicht gehört?« piepste Rölchen erstaunt.
»Keinen Ton. Ich hab’ geschlafen!«
»Bei so einem Lärm kannst du schlafen?« wunderte sich Hilde. »Ich war sofort hellwach!«
»Was war denn los? Nun sagt doch schon!« drängte Hertha ungeduldig.
»Ich kann’s dir sagen«, piepste Rölchen eifrig, »ich hab’ vorhin gehört, wie die Jungens darüber geredet haben!«
»In Theos Zelt haben sie gestern nacht Karten gespielt«, erzählte Hilde, »noch nach elf Uhr … und da hat Hans die beiden K’s losgeschickt, und die haben Theo und die anderen furchtbar verprügelt! Das war der Krach!«
»Ist Kartenspielen denn verboten?« wunderte sich Resi.
»Keine Ahnung! Jedenfalls, ab neun muß geschlafen werden … das solltest du doch wissen!«