übergebe ich das Wort Hans Helbig!« Helmuth setzte sich und putzte seine Brille.
»Liebe Lagergemeinschaft«, begann Hans. »Ich möchte zuerst betonen, daß der Vorschlag, den ich euch jetzt machen will, nicht von mir stammt. Er kommt von Helmuth! Ich gebe das sofort zu, weil ihr bestimmt auch von selber draufkommen würdet!« – Es wurde wohlwollend gelacht. – »Es handelt sich um folgendes: Helmuth meint, wir sollten versuchen, eine Demokratie zu gründen. Ich für meinen Teil halte das für eine prima Idee! Ich verstehe, ehrlich gestanden, nicht sehr viel von der Sache, aber Helmuth sagt, daß er darüber Bescheid weiß. Wenn Helmuth so was sagt, wissen wir alle, daß es auch stimmt. Unsere Demokratie soll ganz ähnlich aufgebaut werden wie die Bundesrepublik, meint Helmuth. Wir sollen uns in allem die Bundesrepublik zum Beispiel nehmen. Praktisch sieht das so aus, daß wir als erstes aus unseren Reihen Kandidaten für ein Lagerparlament aufstellen wollen. In freien und geheimen Wahlen sollen dann von allen Lagerteilnehmern die Kandidaten gewählt werden, die unser Vertrauen haben. Aus dem Parlament muß dann natürlich immer eine Regierung gebildet werden, und Regierung und Parlament sollen dann zusammen Gesetze und Verordnungen aufstellen, nach denen wir uns richten wollen. Das Parlament ist und bleibt natürlich immer seinen Wählern verantwortlich, und die Regierung immer dem Parlament, so daß keiner Angst haben muß, es geschieht etwas, was er, oder besser gesagt, die Mehrheit der Lagergemeinschaft nicht billigt. Sehr wichtig ist es natürlich, daß sich von Anfang an keiner ausschließt, denn wer nicht mitmacht, ist nur nachher selber der Dumme. In einer Demokratie entscheidet immer die Mehrheit, das heißt, die Minderheit muß sich der Mehrheit fügen. Mir scheint, eine Demokratie ist die beste Regierungsform, die wir uns geben können, denn irgendeine Art von Ordnung muß ja jedenfalls sein, sonst geht es einfach nicht. Das ist der Vorschlag, den ich euch machen wollte!«
Keiner der Lagerteilnehmer außer Helmuth hatte sich bisher jemals ernsthafte Gedanken über das Wesen einer Demokratie gemacht, und niemand wäre von sich aus auf den Gedanken gekommen, die Lagergemeinschaft demokratisch aufzuziehen. So waren alle über den unerwarteten Vorschlag einigermaßen verblüfft. Zwar waren die meisten froh, daß überhaupt ein positiver Vorschlag gemacht wurde, er schien ihnen auch durchaus annehmbar, aber immerhin gab es auch einige, die vermuteten, daß dies nichts weiter als ein neuer Trick von Hans war, die Macht nicht aus den Händen zu geben. Der Beifall fiel dementsprechend lahm aus.
»Wenn ihr damit nicht einverstanden seid«, fuhr Hans kampfeslustig fort, »so kann ich euch noch einen anderen Vorschlag machen, und der stammt wirklich von mir: wir teilen das Geld aus der Lagerkasse gleichmäßig an alle auf, und jeder kann damit selig werden, wie er will! Ich für mein Teil haue dann ab. Und vielleicht ist es das, was ihr alle euch wünscht!«
Tiefe Stille herrschte. Die Jungen und Mädchen sahen sich betroffen an.
Jetzt stand Helmuth wieder auf. »Also, Freunde, ihr habt gehört, um was es sich handelt. Weder Hans noch ich haben versucht, euch die Sache besonders schmackhaft zu machen, das müßt ihr zugeben. Wir wollen euch zu nichts überreden, ihr sollt euch alles gut überlegen und dann frei entscheiden. Ich gebe euch eine Viertelstunde, um euch alles durch den Kopf gehen zu lassen und mit euren Freunden zu besprechen, und dann wird abgestimmt. Auf eines möchte ich euch aufmerksam machen: für was die Mehrheit entscheidet, das geschieht – in jedem Fall! Es hilft euch also gar nichts, euch einfach draus zu halten und nicht mitzuwählen. Wenn jemand gegen unsere Demokratie ist, dann kann ich ihm nur raten, auch seine Freunde zur Wahl dagegen zu bestimmen. Eines aber ist sicher: ein Mensch, der nur Wert auf seine persönliche Freiheit und nicht auf Ordnung legt, der ist ein Taugenichts! Ein Mensch, der nur Wert auf Ordnung und keinen auf Freiheit legt, ist ein Feigling! Wer Wert auf Ordnung und auf Freiheit legt, ist ein Demokrat!«
Die Lagerteilnehmer begannen, sich an den Gedanken zu gewöhnen, es wurde heftig und anhaltend geklatscht.
»Hans und ich haben uns für die Gründung einer Demokratie ausgesprochen – wer dagegen ist, kann jetzt das Wort ergreifen und versuchen, die anderen von seiner Meinung zu überzeugen!«
Helmuth sah sich im Kreise um, aber niemand meldete sich. Sicher gab es den einen oder anderen, der gerne etwas zu diesem Thema gesagt hätte, aber niemand traute sich recht! Man hatte sich noch nicht daran gewöhnt, öffentliche Reden zu schwingen.
Helmuth schaute auf seine Armbanduhr und sagte: »Also, ab jetzt … eine Viertelstunde!«
»Kann ich mal was sagen?« Hertha war es, die sich ganz aus dem Hintergrund meldete.
»Klar«, rief Helmuth ihr zu, »aber besser, du kommst nach vorne, damit alle dich verstehen!«
Hertha bahnte sich durch die hockenden Jungen und Mädchen einen Weg, bis sie neben Helmuth stand.
»Hertha hat das Wort«, erklärte er formell. Er tauschte einen Blick mit Hans. Sie hatten beide nicht damit gerechnet, daß wirklich einer von der Aufforderung, zu reden, Gebrauch machen würde, und sie sahen Herthas Meinungsäußerungen mit recht gemischten Gefühlen entgegen. Hertha war, nach dem Krawall heute mittag, so ziemlich alles zuzutrauen.
Hertha räusperte sich, aber trotzdem klang ihre Stimme recht heiser, als sie begann: »Liebe Lagerfreunde, ich möchte nur sagen … ich finde, das mit der Demokratie ist eine großartige Idee! Und ich finde es prima von Hans, daß er selber uns das vorschlägt! Ich weiß, es ist euch wahrscheinlich ganz wurscht, was ich davon denke, aber ich mußte mich einfach zu Wort melden, ich mußte sagen, wie gut ich diesen Vorschlag finde. Genauso, meine ich, müßten wir unsere Lagergemeinschaft aufbauen! Das ist richtig und vernünftig und gerecht, und darauf kommt es doch an!«
Hertha hatte sich immer mehr freigesprochen, ihre Stimme war ganz klar geworden, und sie erntete, gegen ihr eigenes Erwarten, großen Beifall.
»Abstimmen! Wir wollen abstimmen!« riefen einige, aber Helmuth hielt eisern die festgesetzte Viertelstunde ein.
»So«, sagte er dann, »nun los! Dies ist zwar eine öffentliche Abstimmung, aber bitte, stört euch nicht dran! Die Wahl zum Lagerparlament wird geheim sein, geheim, gleich, allgemein, unmittelbar und frei, wie es im Wahlgesetz für die Bundesrepublik heißt!« Er mußte tief Luft holen und sich die Brille zurechtrücken; es war doch recht anstrengend gewesen, nichts durcheinanderzubringen.
»Wer ist dafür, daß wir unsere Lagergemeinschaft zu einer Demokratie entwickeln?« – Zahlreiche Finger gingen hoch. – »Aufstehen, bitte!« – Helmuth sah sich im Kreise um, es schien, als wenn nicht einer sitzen geblieben wäre.
»Die Gegenprobe, bitte!« forderte er laut. – Alle sahen sich an, niemand wußte so recht, wie das gemeint war. – »Diesmal sollen die aufstehen, die dagegen sind, alle anderen müssen sich wieder setzen!« erklärte Helmuth.
Die Gegenprobe fiel eindeutig aus, niemand war aufgestanden.
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