Marie Louise Fischer

Es tut sich was im Landschulheim


Скачать книгу

So konnte und wollte sie sich ihnen jetzt nicht aufdrängen.

      Unwillkürlich entfloh ihr ein schwerer Seufzer; sie sah neue Schwierigkeiten auf sich zukommen.

      „Ist was?“ fragte die Mutter.

      „Ach wo!“ wehrte Leona ab, denn sie wollte die Eltern nicht mit Sorgen belasten, die sie ihr doch nicht abnehmen konnten.

      Der Vater konzentrierte sich jetzt voll aufs Autofahren. Vor ihnen und hinter ihnen quälten sich andere Fahrzeuge die steile Auffahrt hinauf. Herrn Heuer gelang es, einen Wagen zu überholen. Aber jetzt hingen sie hinter einem Bus. Er brachte einen Trupp Rabensteiner vom Bahnhof zur Burg. Einige Jungen im Bus standen am Rückfenster und blickten lachend und sich gegenseitig anstoßend auf die Wagenkolonne hinab, die ihnen folgte.

      Leona erkannte Kurt Büsing.

      Sie sprang auf, so daß sie jetzt das offene Wagendach überragte, winkte und rief begeistert: „Kurt! Kurt!“ – Beim Anblick des Freundes waren alle trüben Gedanken vergessen.

      Kurt legte die Hände an den Mund und rief zurück, aber sie konnte seine Worte nicht verstehen. Das machte nichts, denn in wenigen Minuten würden sie sich gegenüberstehen und miteinander sprechen können.

      Jetzt rollten sie in den Burghof hinein. Herr Heuer suchte einen Parkplatz, was gar nicht so einfach war. Es wimmelte von Autos und Menschen. Viele Eltern hatten es sich nicht nehmen lassen, ihre Sprößlinge persönlich ins Landschulheim zu bringen. Einige waren gerade erst angekommen, andere verabschiedeten sich schon oder waren dabei, Freunde und Freundinnen zu begrüßen.

      Leona grüßte nach allen Seiten. „Sabine, da bin ich wieder! Hallo, Alma, wie geht es dir, altes Haus! Menschenskind, Ilse, bist du schick!“

      Die anderen grüßten vergnügt zurück.

      Kaum, daß der Wagen hielt, sprang Leona heraus und lief zu den Freundinnen, die schon dabei waren, ihre Koffer ins Haus zu schleppen. Leona packte mit an. „Wie war’s in den Ferien?“

      „Spitze!“ sagte Alma.

      „Ich war drei Wochen bei Alma und die übrige Zeit in einem Internat am Genfer See!“ erzählte Sabine.

      „Wieder im Internat?“ rutschte es Leona heraus, aber es wurde ihr sogleich bewußt, wie taktlos diese Bemerkung gewesen war; Sabine hatte ihre Eltern bei einem Autounfall verloren und stand jetzt ziemlich allein auf der Welt. „Entschuldige, bitte!“ fügte sie rasch hinzu.

      „Was soll’s?“ entgegnete Alma forsch. „Takt war noch nie deine Stärke!“ Sie war ein braunäugiges Mädchen, das sich gern jungenhaft gab; das Haar trug sie glatt und ganz kurz geschnitten.

      Doch Sabine rügte die Freundin, was selten vorkam. „Nun fang nicht gleich wieder Stunk an, bitte! Ich bin sicher, Leona hat’s nicht böse gemeint …“

      „Nein, bestimmt nicht!“ versicherte Leona rasch. „Das müßt ihr mir glauben.“

      „Tun wir ja!“ erklärte Sabine. „Außerdem wird es langsam albern, daß alle immer so tun, als hätte es nie einen Unfall gegeben. Davon wird meine Situation auch nicht besser.“

      Da das Thema nun einmal angeschnitten war, wagte Leona noch eine Frage: „Wer sorgt denn eigentlich für dich?“

      „Ein Vormund! Aber der ist Junggeselle und kann mich bei sich zu Hause nicht aufnehmen. Er regelt nur meine Finanzen und bestimmt meine Unterbringung.“

      „Hör auf davon!“ sagte Alma. „Das ist doch kein Gespräch für die ersten fünf Minuten.“

      „Ich bin sehr froh, daß ich es hinter mich gebracht habe!“ Sabine lächelte Leona an. „Andere Kinder haben es ja noch viel schlimmer. Wenn die Eltern sterben und kein Geld da ist und kein Verwandter sie haben will, kommen sie in ein Erziehungsheim.“

      „Wer hat dir denn das gesagt?“ wollte Alma wissen.

      „Mein Vormund.“

      Sie hatten die Koffer abgesetzt und waren stehengeblieben.

      „Hat er dir etwa mit dem Heim gedroht?“

      „Nein, nein, er wollte mich nur trösten.“

      „Ein schöner Trost, so eine Art: ich gebe zu, dir geht es schlecht, aber denke immer daran, daß es anderen noch schlechter geht.“

      „Genau“, stimmte Sabine zu, „so was nennt man einen negativen Trost, glaube ich.“

      „Trotz allem … du siehst gut erholt aus!“ stellte Leona fest.

      Das stimmte, Sabines von Natur aus sehr helle, fast durchsichtig wirkende Haut war braun getönt, sie hatte kleine Sommersprossen auf der Nase und ihre grünen Augen glänzten.

      „Es war ja auch sehr schön … besonders am Genfer See!“ Mit einem Seitenblick auf die Freundin fügte sie hinzu: „Natürlich auch bei Alma … wie immer.“

      Leona spürte, daß es eine kleine Spannung zwischen den Freundinnen gab. Aber sie begriff, daß es auch für die besten Freundinnen schwierig werden konnte, Tag und Nacht zusammenzuhocken, wenn es keine Pflichten und nicht genügend Abwechslung gab. Sie nahm sich fest vor, sich in die Beziehungen der beiden nicht einzumischen. Das mußten sie unter sich ausmachen.

      „Ich glaube, ich halte euch nur auf“, sagte sie, „ich muß mich um meine Eltern und mein Gepäck kümmern … bis später dann! Ich wette, wir haben uns eine Menge zu erzählen!“

      Als sie zum Auto zurückkam, hatte Herr Heuer gerade ihre Koffer auf das Kopfsteinpflaster gewuchtet und wollte sie zur Burg tragen.

      „Laß das, Vati!“ rief Leona ihm schon von weitem zu. „Das macht Kurt!“ Dann rief sie zu Kurt hinüber, der noch darauf wartete, daß sein Gepäck aus dem Bauch des Omnibusses geholt wurde: „Kurt, bitte! Du hilfst mir doch mit den Koffern, ja?“

      Kurt schlenderte grinsend zu ihnen. „Na, dann will ich mal nicht so sein!“ Er rang sich einen wohlerzogenen Gruß und zwei kleine Verbeugungen ab. „Guten Tag, Frau Heuer! Tag, Herr Heuer!“ Dann wandte er sich Leona zu: „Grüß dich, Kleine!“ Er klopfte sie freundschaftlich auf den Rücken.

      „Kleine? Na erlaube mal!“ protestierte Leona und reckte sich auf die Zehen. „Ich bin fast so groß wie du!“

      „Auf die körperliche Größe kommt es nicht an“, erklärte er mit Würde, „sondern auf die innere Reife. Vergiß nicht, ich bin ein Jahr älter als du.“

      Aber er nahm sich nicht so wichtig wie er tat, und stimmte vergnügt in das Lachen von Leona und ihren Eltern ein. Er war ein durchschnittlich aussehender Junge mit blauen Augen und blondem Haar, der, weil er mit zu großem Vergnügen aß, etwas untersetzt wirkte. Jetzt, sehr braungebrannt, sah er besser aus, als Leona ihn in Erinnerung hatte.

      „Du bist schlanker geworden“, stellte sie fest.

      „Das hört man gern.“ Kurt klopfte sich auf den Bauch. „Ich habe mich zurückgehalten, so gut es ging … aber leider ging’s nicht immer.“

      „Mach dir nichts draus, es ist ja kein Charakterfehler.“

      „Ich glaube, es ist Schicksal“, behauptete Kurt.

      „Bringst du mir die Koffer ins Haus? Bitte, ja?“

      „Dürfen denn die Jungen bei euch ein und aus gehen?“ fragte Frau Heuer stirnrunzelnd.

      „Nicht daran zu denken“, erklärte Kurt, „wir dürfen nur bis zur Treppe neben dem Speisesaal, und keinen Schritt weiter.“

      „Die Jungen hausen da drüben!“ Leona wies auf ein schlichtes modernes Nebengebäude, das durch den ganzen Hof und eine Ecke des Parks vom Haupthaus getrennt war.

      „Leona wollte zwar anfangs unbedingt bei uns wohnen …“ erzählte Kurt.

      „Das finde ich aber gemein!“ schrie Leona dazwischen.

      Doch