Ortwin Meiss

Hypnosystemische Therapie bei Depression und Burnout


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annimmt, interpretiert er es als Zeichen, dass sie ihn erhört.

      Wird die Vorleistung angenommen, aber der Ausgleich verweigert, fühlt man sich betrogen, abgelehnt und abgewertet. Abgelehnt und abgewertet aus dem folgenden Grund: Statusgleiche befinden sich in einem Verhältnis des gegenseitigen Ausgleichs. Was man genommen hat, hat man auch zurückzugeben. Dieses Prinzip des Ausgleichs gilt nicht in gleicher Weise unter Statusungleichen. Der Statushöhere nimmt oft, ohne Entsprechendes zurückzugeben. Der König oder der Adlige hatte kein Bedürfnis, dem Volk das zurückzuzahlen, was er ihm genommen hatte. Es war Zeichen der Anständigkeit, Menschlichkeit, Güte oder Gnade, wenn er es dennoch tat. Auf der anderen Seite war es ein Zeichen der Überlegenheit, wenn er den Ausgleich verweigerte.

      Hat man etwas gegeben und bekommt nichts zurück, wird dies als Erniedrigung und Abwertung empfunden. Der andere verweigert eine gleichrangige Beziehung und maßt sich einen höheren Status an. Wenn man sich dann weder gegen die Abwertung auflehnt noch darüber empört, akzeptiert man die Abwertung und wird sich dementsprechend schlecht fühlen. Viele depressive Patienten haben Vorleistungen erbracht, die nie zurückgezahlt wurden. Da sie zudem oft nicht gelernt haben, ihre Rechte einzufordern und sich für die eigenen Interessen stark zu machen, produzieren sie in ihren Beziehungen Minusgeschäfte und ruinieren zudem ihr Selbstwertgefühl. Es sind genau solche Erfahrungen, die Depressionen zur Folge haben und die das Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl der Patienten zugrunde richten.

      Andersherum sollte man sich gut überlegen, ob man ein Geschenk annimmt, denn oft steht ein Beziehungswunsch dahinter, und als Gegenleistung wird erwartet, dass man den anderen in seinen persönlichen Kreis aufnimmt oder eine partnerschaftliche Beziehung mit ihm eingeht.

       Verbitterung

      Enttäuschung bezüglich des nicht gewährten Ausgleichs von Geleistetem kann die Form von Verbitterung annehmen. Der Patient zieht sich dann in sich selbst zurück und weigert sich, weiter am Leben teilzunehmen.

      Eine Patientin hat sich ein Leben lang um ihre Mutter gekümmert und sie in deren letzten Lebensjahren bei sich zu Hause gepflegt. Auf dem Totenbett bedankt die Mutter sich im Beisein ihrer Tochter bei ihrer Schwägerin dafür, dass diese ihr Enkelkinder geschenkt habe und vermacht ihr ihren Ring. Die Tochter geht dagegen leer aus. Die Mutter stirbt, ohne ihr in irgendeiner Form Anerkennung für die jahrelange Pflege zu geben. Bei der Testamentseröffnung wird deutlich, dass sie nur den Pflichtteil bekommt. Den größten Teil erbt der Bruder. Von ihrer Tante wird ihr noch vorgeworfen, das Begräbnis falsch organisiert zu haben.

      Verbitterung kann auch entstehen, wenn man erkennen muss, dass trotz enormer Anstrengung und beträchtlicher Bemühungen die Lebensbilanz deutlich negativ ist. Viele Menschen haben zum Leben ein Verhältnis wie zu einem Elternteil, das den einen bevorzugt und den anderen benachteiligt. Manche Patienten fühlen sich nicht nur von anderen hintergangen, sondern auch vom Leben betrogen. »Wie kann das Leben so ungerecht sein?« ist eine Frage, die ich einige Male gehört habe.

      Ein ehemaliger Zahnarzt ist während seiner Berufszeit zwischen drei Stühlen hin und her gesprungen, hat sich kaum Freizeit gegönnt und das Geld zusammengescheffelt, um sich später einen geruhsamen Lebensabend zu gestalten und dann das Leben zu genießen. Als er das Pensionsalter erreicht, verliert er einen Großteil seines Vermögens durch betrügerische Immobilienspekulationen. Zudem hat er sich ein chronisches Rückenleiden zugezogen, das ihm ständige Schmerzen bereitet. Sein Leben erscheint ihm als ein riesiges Minusgeschäft. Seine Investitionen haben sich nicht rentiert.

      Verbitterung entsteht oft dann, wenn jemand ein großes Opfer für einen anderen oder die Allgemeinheit geleistet hat und er nicht nur keine Gegenleistung bekommt, sondern auch noch abgewertet wird. In manchen Fällen wird dann auch jedes Hilfsangebot abgewiesen, denn die Wut und die Enttäuschung ist zu groß, als dass man Hilfe akzeptieren könnte. Es ist dann notwendig, das Geschehene ausführlich zu würdigen, den Gefühlen des Patienten ausreichend Raum zu geben und Verständnis für seine Verbitterung und seine Enttäuschung zu zeigen. Ohne diese Voraussetzungen ist der Patient oft nicht bereit, sich helfen zu lassen.

       Faule Kompromisse

      Viele depressive Patienten haben nicht gelernt, konstruktive Auseinandersetzungen zu führen und zu tragfähigen Kompromissen und beidseitig akzeptierten Lösungen zu kommen. Oft besteht die Angst, wenn man sich für seine Interessen stark macht, nicht mehr gemocht zu werden oder daran schuld zu sein, dass es dann dem anderen nicht gut geht. Manchmal besteht eine grundlegende Angst vor Aggressionen und Auseinandersetzungen, insbesondere wenn der Patient in der Kindheit Einschüchterungen und Gewalterfahrungen ausgesetzt war. Es besteht keine konstruktive Streitkultur. Auseinandersetzungen werden als bedrohlich empfunden. Stattdessen geben depressive Menschen dem Druck oder den Wünschen ihrer sozialen Umgebung nach und leisten auf indirekte Weise Widerstand, indem sie schmollen, den Märtyrer spielen oder das Unbewusste ihnen zu Hilfe kommt und es nicht mehr geht.

      Dieses Verhalten wird von ihrer Umgebung in der Regel nicht belohnt, sondern mit Ablehnung und Aggression beantwortet. Der depressive Patient macht dann nicht nur ein Minusgeschäft, indem er nachgibt, er erhält für seinen Verzicht keine Gratifikation, sondern für seinen passiven Widerstand Geringschätzung und Groll. Wer entgegen den eigenen Interessen in einen Urlaubsort fährt, der ihm nicht behagt, versaut den anderen den Urlaub mit seiner schlechten Laune. Wer dem Drängen eines anderen nachgibt und etwas erledigt, wozu er keine Lust hat, macht dies selten gut. Wenn eine Person etwas zusagt, was sie eigentlich nicht will, wird ihr Unbewusstes Widerstand leisten.

      Eine Frau bringt ihren Freund, einen gut verdienenden Zahnarzt, zu mir in die Therapie, weist ihn an, auf dem Therapiestuhl Platz zu nehmen. Sie wendet sich mir zu und deutet mit den Worten auf ihn: »Er kann nicht! Er ist impotent!« Ihr Freund nickt mit gesenktem Kopf. Wie ich erfahre, kennen die beiden sich seit drei Monaten. Nach sechs Wochen hat sich die Frau schon mit seinem Steuerberater besprochen, wie hoch sich ihr Freund für ein gemeinsames Haus verschulden könne. Offenbar ist er nicht in der Lage, seiner Freundin Einhalt zu gebieten und Grenzen zu setzen. So muss sein Organismus für ihn einspringen und sich verweigern. Da es bei dem Tempo, dass die Dame bei dem Versuch anschlägt, die Beziehung verbindlich zu machen, nicht unwahrscheinlich ist, dass sie schnell schwanger wird, rettet sein Organismus ihn mit der Impotenz. Er will ja, aber es geht nicht.

      In ähnlicher Weise kommuniziert der depressive Patient, dass er ja den Forderungen und Erwartungen seiner sozialen Umgebung nachkommen und deren Erwartungen gerecht werden möchte, er schafft es nur nicht. Die Depression hält ihn dann davon ab, sich weiter mit seinen Handlungen ins Minus zu bringen.

      Ein Burnout kann in gleicher Weise als Verweigerung des Unbewussten gesehen werden, so weiterzumachen wie bisher. Der Burnout-Patient ist nicht in der Lage, sich gegen die Ansprüche der anderen und vor allem auch nicht gegen seine eigenen Ansprüche zur Wehr zu setzen. Das Burnout kann als unbewusste Totalverweigerung interpretiert werden. Der Patient möchte zwar, aber »es« will einfach nicht.

       Gesellschaftliche Spielregeln – zum Opfer werden

      In meiner Schulzeit wurde man auf das reale Leben wenig vorbereitet. Nichts lernten wir über Wirtschaft, Versicherungen, Banken und die Regeln des Geschäftswesens. Viele Menschen sind über gesellschaftliche Prozesse und Zusammenhänge nur unzureichend informiert und werden schnell Opfer von Betrügern und Geschäftemachern. Beispielsweise hat kaum jemand einen Bankberater, auch wenn die Bank damit wirbt. Derjenige, der vor einem sitzt, ist ein Angestellter und Interessenvertreter der Bank, hat von Anlagen in der Regel wenig Ahnung und empfiehlt das, was sein Vorgesetzter ihm vorgibt. Dieser kennt den Kunden nicht und orientiert sich vor allem an dem Gewinn, den er selbst macht. Wenn ein sogenannter Bankberater einen Fonds anpreist, so wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit einer sein, der ihm eine schöne Provision einbringt, wenn er einem eine Aktie empfiehlt, ist es wahrscheinlich, dass die Bank sie entweder selbst loswerden will oder aber ein anderer eine Provision dafür bezahlt,