Marie Louise Fischer

Jung und verliebt im Landschulscheim


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… heißt Eulau! Frau Helga Eulau!“

      Leona fühlte sich, als sie das völlig verständnislose Gesicht des fremden Jungen sah, zu einer Erklärung bemüßigt. „Pauline ist nur ihr Spitzname“, sagte sie langsam und überdeutlich, „weil ihr Mann mit Vornamen Paul heißt …!“ Als sie merkte, daß er immer noch nicht begriff, wiederholte sie: „Pauline ist …“ Sie hatte seit dem Herbst Französisch als zweite Fremdsprache bekommen, aber die Übersetzung für Spitzname wollte ihr nicht einfallen.

      „Un sobriquet?“ fragte Gaston.

      Leona hatte den Ausdruck noch nie gehört. „Wenn du es sagst, wird’s schon stimmen.“

      Anstatt sich zu beruhigen wurde Gaston noch zorniger. „Oh, ihr Deutschen!“ rief er. „Ihr seid grausam!“

      „Ach was, Quatsch mit Soße“, entgegnete Ute gelassen, „du mußt einfach lernen, Spaß zu verstehen.“

      „Das meine ich auch“, stimmte Frau Wegner ihr zu, „also steh nicht länger herum, Gaston, nimm dir einen Stuhl und setz dich zu uns.“

      Es gab einen freien Platz am Tisch, und der war zwischen Andreas und Jochen, Leona und Ute gegenüber. Auf den setzte Gaston sich mit finsterem Gesicht, ohne jedoch Anstalten zu machen, sich ein Brot zu streichen. Statt dessen saß er, die Arme übereinandergeschlagen, die Augen niedergeschlagen, einfach da.

      Die Freundinnen tuschelten miteinander.

      „Ist er nicht süß?“ wisperte Ute.

      „Er benimmt sich wie ein Fünfjähriger!“ gab Leona abfällig zurück.

      „Aber er ist mindestens fünfzehn.“

      Ob Gaston nun verstanden hatte, was die beiden sagten, oder ob er auch nur gemerkt hatte, daß über ihn geredet wurde, jedenfalls drehte er mit einem Ruck den Stuhl um und setzte sich mit dem Rücken zum Tisch.

      „Gaston“, sagte Frau Wegner, „ich muß doch sehr bitten!“

      Der Junge reagierte überhaupt nicht.

      „Ob du mit uns essen willst oder nicht, ist deine Sache“, fuhr die Erzieherin fort, „aber daß du dich anständig hinsetzt, darf ich doch wohl erwarten!“

      Gaston blieb bei seiner Haltung, die seine Ablehnung gegen die Rabensteiner und ihre Gebräuche überdeutlich zum Ausdruck brachte.

      „Bitte!“ forderte Tina Wegner energisch.

      „Sei doch nicht blöd!“ sagte Leona.

      Andreas und Jochen versuchten es erst gar nicht mit Worten; sie standen auf, rollten die Hemdsärmel hoch, mimten Möbelpacker und drehten Gaston mitsamt seinem Stuhl einfach um. Er versuchte nach ihnen zu treten.

      Jochen hielt ihm die geballte Faust unter die Nase. „Lieber nicht, Kleiner, ich warne dich. Wenn du dich mit uns prügeln willst, sollst du gleich nach dem Essen Gelegenheit dazu haben, aber im Freien und nicht in Anwesenheit von Damen.“

      „Laissez-moi tranquille!“ schrie Gaston aufgebracht.

      Darauf erwiderte Andreas in seinem breitesten Bayrisch: „Dei Ruah koanst hab’n, wannst du a Ruah gibst!“

      Alle lachten – alle außer Gaston, der gar nichts auf Rabenstein komisch fand, Andreas wahrscheinlich auch nicht verstanden hatte.

      Kurt Büsing kam zu dem Tisch, an dem Tina Wegner den Vorsitz hatte.

      „Alle mal herhören!“ sagte er, nicht ohne Wichtigtuerei. „Nach dem Essen ist große Versammlung in der Aula!“

      „Wat soll dat dann?“ fragte Jochen Schmitz recht rheinisch.

      Aber auch die anderen wunderten sich und fragten: „Warum?“ – „Wieso?“ – „Was hat das zu bedeuten?“

      Kurt Büsing zuckte die runden Schultern. „Keine Ahnung. Es ist uns durchgegeben worden, und ich melde es weiter.“

      Alle fanden es höchst merkwürdig, daß gleich am Tag ihrer Rückkehr aus den Ferien eine Schülerversammlung abgehalten werden sollte; es lagen ja gar keine Probleme in der Luft. Die meisten hätten sich lieber in kleinen Gruppen zusammengefunden und sich von ihren Erlebnissen erzählt. Aber andererseits war eine Zusammenkunft, deren Anlaß sie nicht kannten, auch hochinteressant. Die Unterhaltung wurde sofort lebhafter, das Essen – ohne daß sie es merkten – schneller hinuntergeschlungen als gewöhnlich.

      Leona war als erste fertig und sprang auf. „Ich hab’s!“

      „Leona, bitte“, mahnte Frau Wegner, „wie oft habe ich schon gesagt, daß wir uns erst erheben, wenn alle ihre Mahlzeit beendet haben und ich das Zeichen gebe?“

      „Warum denn einfach, wenn es auch umständlich geht“, maulte Leona und ließ sich wieder auf den Stuhl sinken.

      „Immer langsam mit den jungen Pferden!“ tröstete Ute sie. „Was hast du schon davon, wenn du als erste in der Aula bist? Der Uhu wird doch erst reden, wenn alle versammelt sind.“ – „Uhu“ war Direktor Eulaus Spitzname, und niemand dachte sich etwas Böses dabei, wenn er ihn benutzte.

      „Na eben! Deshalb bin ich der Meinung, daß wir uns beeilen sollten.“

      „Das tun alle ja sowieso schon.“

      Ute legte Leona beschwichtigend die Hand auf den Arm und hielt sie auch noch zurück, als die Erzieherin aufgestanden war.

      „Langsam, ganz langsam“, riet sie, „nur die Ruhe kann es bringen. Du wirst sehen, die fangen nicht an, bevor wir da sind!“

      Die ungeduldige Leona ließ sich von Ute beeinflussen, und so kam sie zu dem Vergnügen zuzusehen, wie die anderen sich gegenseitig knuffend und tretend durch die Tür drängten. Diese Tür war breit genug, aber mehr als zwei Menschen konnten eben doch nicht gleichzeitig hindurch. Wenn mehr als hundert eilig hinaus wollten, war sie entschieden zu schmal. Auch Gaston wurde, so blasiert er auch tat, von dem allgemeinen Gedränge und Geschiebe mitgerissen.

      Leona und Ute schafften es, als letzte den gotischen Saal mit den bunt verglasten Spitzbogenfenstern zu betreten, die Aula von Burg Rabenstein. Auf dem Podium, das der Theatergruppe zu der Weihnachtsaufführung als Bühne gedient hatte, war jetzt ein Rednerpult zu sehen. Auf das stützte sich Direktor Eulau, ein sehr gelassener, überlegener und humoriger Mann Anfang Fünfzig, mit dem Ellbogen, das Kinn in der Hand. Es herrschte jene erwartungsvolle Stille, die einem allgemeinen Stimmengesumm zu folgen pflegt. Alle Blicke, außer dem des Direktors, waren nach vorn gerichtet.

      Er sah Ute und Leona an, die gemütlich hereingeschlendert kamen. „Wenn die letzten jungen Damen so liebenswürdig wären, sich jetzt auch ein Plätzchen zu suchen …“

      Alle Köpfe flogen zu ihnen herum, und Leona errötete, als sie sich so im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit fand.

      Ute hingegen sagte laut und ohne eine Spur von Verlegenheit: „Aber gewiß doch, Herr Direktor!“

      Da alle Stühle besetzt waren – oder auch nur besetzt schienen –, zog sie die Freundin in eine der Fensternischen, die, wegen der dicken Mauern, wie überall auf der Burg sehr breit waren. Die Mädchen machten es sich dort bequem, indem sie die Beine anzogen und die Knie mit den Armen umschlangen.

      „Nun denn!“ Direktor Eulau wandte seine Augen von ihnen ab und der Allgemeinheit zu. „Zuerst einmal möchte ich euch alle begrüßen und euch dazu beglückwünschen, wieder auf Rabenstein eingetroffen zu sein!“

      Diese Bemerkung wurde mit allgemeinem Gelächter quittiert. Nur Gaston lachte nicht. Er saß mit finsterer Miene und untergeschlagenen Armen da.

      „Kiek dir den an!“ raunte Ute der Freundin zu.

      „Wahrscheinlich versteht er nicht richtig.“

      „Na und? Man lacht doch trotzdem mit, wenn die anderen lachen.“

      Weiter kam diese kleine private Unterhaltung nicht, denn Direktor Eulau hatte in seiner Ansprache schon