wünsche ich mir das regelrecht. Wenigstens gäbe es so einen Grund dafür, dass sie nichts von sich hören lässt. Und dann fühle ich mich schrecklich, dass ich so denke.«
»Ich erinnere mich noch daran. Der Tag der Entscheidung, da hieß es: Geh oder bleib! Es muss für so viele Menschen schrecklich gewesen sein.«
»Es hat Familien zerrissen. Aber meine Mutter hätte nicht gehen müssen, niemand hat sie gezwungen, wegen mangelnder Sprachkenntnisse das Land zu verlassen. Sie sprach perfekt Englisch. Am Ende hat sie sich bewusst dafür entschieden, meinen Vater und mich zu verlassen.«
»Wie war sie so?«
»Wundervoll. Deshalb verstehe ich es auch nicht. Wenn ich an meine Mutter denke, sehe ich diese warmherzige, tolle Frau vor mir, die für mich da war, mir vorgesungen hat und sich in jeder Hinsicht gut um mich gekümmert hat. Ich habe nie begriffen, warum sie fort ist. Begreife es heute noch nicht.« Ich schaue Sam an, die noch immer meine Hand hält. »Normalerweise rede ich nicht über meine Mutter.« Und das stimmt auch. Ich rede nie über sie, warum bin ich Sam gegenüber so offen?
In vielerlei Hinsicht ist Sam nicht, wie ich es erwartet habe. So gar nicht. Am Anfang habe ich mich in ihrer Gegenwart total unwohl gefühlt, aber sie ist so viel mehr, als man zunächst sehen kann: lustig, talentiert, liebenswürdig.
Jetzt lässt sie meine Hand los. Rückt ein wenig von mir ab, als sie nach einem Stück Schokokuchen greift. Plötzlich ist da eine Distanz, vielleicht sind es nur Zentimeter, dennoch kommt es mir unüberbrückbar vor.
Und nun hoffe ich, dass sie nicht gesehen hat, dass ich ihr nah und auch wieder nicht nah sein wollte. Dass ich insgeheim gehofft hatte, dass sie jemand wäre, den ich verachten könnte. Aber das ist sie nicht und das macht es schwerer.
Sam fängt an, über Lucas zu sprechen, gibt zu, dass sie ihn ins Englischheft gezeichnet hat.
»Ist er denn dein Romeo?« Ich necke sie ein wenig, doch es interessiert mich auch. Sam schüttelt den Kopf, aber so ganz kaufe ich es ihr nicht ab. Da scheint mehr zu sein.
Und dann lächle ich, bin glücklich und traurig zugleich. Glücklich über Sams Vertrauen und ihre Freundschaft. Ich fühle mich nicht mehr ganz so einsam wie zuvor. Aber dennoch bin auch traurig.
SAM
Am nächsten Tag stehe ich nachmittags am Fenster und schaue Avas Taxi hinterher. Die Polizei hat die Lage so weit beruhigt, dass die Straßen wieder freigegeben werden konnten. Ava fährt nach Hause.
Gestern Nacht haben wir stundenlang geredet. Fast hätten wir noch das Mittagessen verschlafen.
Auch wenn wir uns noch nicht lange kennen, vertraue ich ihr. Und ich war ich selbst. Ich habe gesagt, was ich denke und fühle, ohne mir einen Kopf zu machen, ob ich es sagen darf oder nicht. Richtig befreit habe ich mich gefühlt! Ich hoffe, dass wir bald wieder so miteinander reden können.
Die Geschichte mit ihrer Mutter ist so traurig. Vielleicht kann ich da was für sie tun.
Abends klopfe ich an Dads Tür.
»Komm rein«, sagt er.
Ich stecke den Kopf in die Tür.
»Hi, Samantha.« Mit hochgezogenen Schultern und einer tiefen Falte zwischen den Brauen sitzt er am Schreibtisch. Er ist müde und gestresst. Kein guter Moment, ihn um einen Gefallen zu bitten. Ich will schon den Rückzug antreten.
»Komm ruhig rein«, sagt er. »Ich muss mal eine Pause machen.«
»Wenn du meinst. Lust auf einen Tee?«
»Gute Idee.«
»Kommen lassen oder selbst kochen?«
»Lass uns selbst kochen.« Zusammen gehen wir in die kleine Büroküche am Ende des Flurs und ich fülle den Kessel.
»Gibt es Probleme, Dad?«
»Wann gibt es mal keine Probleme? Mach dir keine Sorgen.«
»Das sagst du immer.«
»Du hast dir auch schon immer gerne Sorgen gemacht.«
»Aha.« Ich schenke uns Tee ein. Nun fällt mir wieder ein, was ich ihn noch fragen wollte. »Hat es mit Astrid Connors Besuch gestern zu tun?«
Zögernd rührt er sich Milch in den Tee. »Kein Kommentar.«
Ich verdrehe die Augen. Normalerweise bohre ich nicht nach, aber diesmal will ich es wissen. »Dass sich der Vize-Premierminister mit einer führenden Person der Opposition trifft, passiert nicht alle Tage. Will sie die Seiten wechseln?«
»Kein Kommentar.«
Ich mustere ihn. »Nein, es ist was anderes. Hhmm.«
»Ist ja schlimmer als eine Pressekonferenz. Färbt Ava auf dich ab? Du scheinst ja auf einmal ein Interesse an Politik zu entwickeln.«
Nun bin ich echt sauer. »Wieso entwickeln? Das liegt mir im Blut.«
»Halt dich da bloß raus, Sam. Das ist ein hartes Geschäft.«
»Damit käme ich nicht klar, meinst du?«
»Davor möchte ich dich beschützen, mehr nicht. Nun muss ich aber weiterarbeiten. Oder wolltest du irgendwas Bestimmtes?«
»Eigentlich wollte ich fragen, ob du was für Ava tun kannst.«
»Was denn?«
»Ihre Mutter ist am Tag der Entscheidung zurück nach Schweden gegangen. Ava hat seither nichts mehr von ihr gehört.«
Mein Vater schüttelt den Kopf. »Das muss schwer für sie sein.«
»Aber nach allem, was Ava mir erzählt hat, ergibt es keinen Sinn, dass ihre Mutter das Land verlassen hat. Da scheint was anderes dahinterzustecken. Und an den strengen Sprach-Gesetzen lag es auch nicht. Ihre Mutter sprach perfekt Englisch.«
»Und jetzt fragst du dich, ob ich was rausbekommen kann?«
»Ja. Kannst du?«
Nach einem Moment des Zögerns greift er in seine Tasche und zieht sein Handy hervor. »Wie heißt Ava mit vollem Namen?«
»Ava Nicholls.« Er macht sich eine Notiz. »Danke, Dad.«
»Versprechen kann ich nichts. Vielleicht gibt es da auch nichts herauszufinden. Nun leg dich mal lieber hin und schlaf. Morgen ist sicher wieder Schule.«
Kurz darauf liege ich im Bett, starre an die Decke und hoffe, bald einschlafen zu können. Dass ich gestern die halbe Nacht aufgeblieben bin und heute so lange geschlafen habe, hat meinen Rhythmus total durcheinandergebracht.
Und außerdem lässt mir noch was anderes keine Ruhe. Warum habe ich mich eigentlich so über Dads Reaktion geärgert, als ich ihn auf Astrid angesprochen habe?
Er nimmt mich einfach nicht richtig ernst. Dass ich auch politisch interessiert bin und was zu sagen haben könnte, scheint er sich nicht vorstellen zu können. Ava gegenüber hat er sich gestern beim Abendessen ganz anders verhalten. Vielleicht wollte er auch einfach nur nett sein, weil sie bei uns zu Gast war und eine potenzielle Wählerin ist. Aber ich glaube, dass es nicht nur daran lag. Irgendwie hat er ein festes Bild von mir, ich stecke in der Tochterschublade, in der es keinen Bewegungsspielraum gibt, und das tut weh. Bin ich immer so brav in dieser Schublade geblieben, dass er mich jetzt nicht mehr mit anderen Augen sehen kann?
Endlich gleite ich in diesen Zustand zwischen Wachsein und Schlafen, mir gehen alle möglichen Bilder durch den Kopf – Ava, Lucas –, als plötzlich mein Handy auf dem Schreibtisch vibriert. Wer ruft denn jetzt an?
Erst will ich es ignorieren, aber dann bin ich auf einmal wieder hellwach. Weil ich fürchte, dass die Mailbox gleich anspringen könnte, klicke ich schnell auf Annehmen und bemerke dann erst, dass es eine unbekannte Nummer ist. Um Mitternacht?
»Hallo?«, sage ich.
»Sam? Lucas hier.«