Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)
Als ich das Zimmer meines Vaters verlassen hatte, strengte ich mich noch an, Ihnen ein Paar Worte zu schreiben, und befand mich so übel, daß ich hoffte, als ich mich zu Bette legte, nicht wieder aufzustehen. Alles Uebrige ist Ihnen nur zu gut bekannt; meine Unvorsichtigkeit zog die Ihrige nach sich. Sie kamen; ich sah Sie, und glaubte, daß es nur einer von jenen Träumen war, welche sich mir so oft während meiner Fieberphantasien vorstellten, Aber als ich erfuhr, daß Sie da gewesen, daß ich Sie wirklich gesehen hatte, und daß Sie sich mit der Krankheit, von der Sie mich nicht heilen konnten, um sie zu theilen, geflissentlich angesteckt hatten, konnte ich diese letzte Prüfung nicht bestehen, und indem ich eine so zärtliche Liebe die Hoffnung überdauern sah, kannte meine eigene Hoffnung, die ich zu unterdrücken so viele Mühe angewendet, keinen Zügel mehr, und entbrannte bald lebhafter denn je zuvor. Ich sah, daß ich wider Willen lieben mußte; ich fühlte, daß es nicht anders ging, ich mußte strafbar sein; ich fühlte, daß ich weder meinem Vater noch meinem Geliebten widerstehen konnte, und daß es nicht möglich war, die Rechte der Liebe und die des Blutes anders in Einklang zu bringen, als auf Kosten der Ehrbarkeit. So erlosch jede gute Regung vollends in mir, alle meine Kräfte waren gebrochen; das Verbrechen erschien mir nicht mehr als Verirrung; ich fühlte mich in meinem Innern völlig umgewandelt; endlich stürzte mich die entfesselte Heftigkeit einer durch die Hindernisse zur Wuth gewordenen Leidenschaft in die furchtbarste Verzweiflung, welche eine Seele niederbeugen kann; ich wagte an der Tugend zu zweifeln, Ihr Brief, der wahrlich mehr geeignet war, die Reue zu erwecken, als ihr vorzubeugen, vollendete meinen Irrwahn. Mein Herz war so bestochen, daß meine Vernunft den Sophismen Ihrer Philosophie nicht widerstehen konnte; Gräuel, deren Vorstellung nie meine Seele besudelt hatte, boten sich ungestraft ihr dar. Noch kämpfte der Wille dawider, aber die Phantasie gewöhnte sich an sie, und wenn ich nicht im Voraus das Verbrechen im Grunde meiner Seele hegte, so fehlten ihr doch auch jene edlen Vorsätze, die ihm allein Widerstand leisten können.
Es wird mir schwer, fortzufahren: halten wir einen Augenblick inne! Erinnern Sie sich jener Zeiten des Glückes und der Unschuld, da jenes lebhafte und doch so milde Feuer, das uns beseelte, alle unsere Empfindungen läuterte, da seine heilige Glut [Heilige Glut! Julie, Julie, ach, was für ein Wort für eine Frau, die sich so vollständig geheilt dünkt!] uns die Schamhaftigkeit theurer und die Sittsamleit liebenswerther machte, da sich die Begierden selbst nur zu regen schienen, damit wir die Ehre erwürben, sie zu besiegen, und uns einer des andern noch mehr werth zu machen. Lesen Sie unsere ersten Briefe wieder, denken Sie an jene kurzen und zu wenig genossenen Augenblicke, da sich die Liebe in unseren Augen mit allen Reizen der Tugend schmückte, und wir uns zu sehr liebten, um Bande, welche diese nicht anerkennt, zwischen uns zu schlingen.
Was waren wir, und was sind wir geworden? Zwei zärtlich Liebende brachten ein ganzes Jahr mit einander im strengsten Schweigen hin, ihre Seufzer wagten sich nicht hervor, aber ihre Herzen verstanden einander; sie glaubten zu leiden und sie waren glücklich. Ihr Verstehen führte zum Aussprechen; zufrieden aber, sich selbst besiegen und sich gegenseitig dies ehrenvolle Zeugniß geben zu können, brachten sie abermals ein Jahr in nicht minder strenger Zurückhaltung hin; sie sagten einander ihre Leiden und sie waren glücklich. Der lange Kampf wurde schlecht zu Ende geführt; ein schwacher Augenblick verwirrte sie; sie vergaßen sich in ihren Freuden. Hatten sie aufgehört keusch zu sein, waren sie wenigstens treu, der Himmel und die Natur wenigstens gaben ihrer Verbindung Rechte, die Tugend war ihnen theuer, sie übten sie noch und wußten sie noch zu ehren; sie waren weniger verderbt als gesunken. Nicht mehr so werth, glücklich zu sein, waren sie es dennoch.
Und was thun sie jetzt, diese zärtlich Liebenden, die von einer so reinen Flamme entbrannt waren, die so ganz den Werth der Sittlichkeit fühlten? Wer wird es hören können, ohne über sie zu seufzen? Dem Verbrechen sind sie anheimgefallen, selbst der Gedanke, das eheliche Bett zu beflecken, macht ihnen kein Grausen .... Sie sinnen auf Ehebruch, Wie? Sind sie noch die nämlichen? Sind nicht ihre Seelen verwandelt? Wie kann das entzückende Bild, das der Schlechte sicher nie gesehen hat, aus Herzen schwinden, in denen es strahlte? wie ist es möglich, daß der Reiz der Tugend nicht Denen, die sie einmal gekannt, das Laster auf immer verleide? Wie viele Jahrhunderte waren nöthig, um eine so wunderbare Verwandlung hervorzubringen? Was für Zeiträume bedurfte es, um ein so bezauberndes Andenken zu verwischen, und Dem, der ein wahres Glück gekostet hatte, das Gefühl davon zu rauben? Ach! wenn uns die erste Verirrung schwer wird und langsam kommt, wie leicht, wie blitzschnell sind die übrigen! Blendwerk der Leidenschaft, du bezauberst so die Vernunft, bestichst die Sittsamkeit und wandelst die Natur, ehe man sich dessen versieht! Man verirrt sich einen einzigen Augenblick im Leben, man lenkt um einen einzigen Schritt von der geraden Straße ab, sogleich reißt uns ein unvermeidlicher Abhang tiefer und tiefer in's Verderben; man stürzt in den Schlund, und erwacht voll Entsetzen, sich, bei einem Herzen, das für die Tugend geschaffen war, mit Verbrechen beladen zu finden. Mein Freund, lassen wir den Schleier fallen: haben wir nöthig, den schauerlichen Abgrund zu sehen, welchen er verhüllt, um uns zu hüten, daß wir uns ihm nicht nähern? …. Ich nehme meine Erzählung wieder auf.
Herr v. Wolmar traf ein, und ließ sich durch die Entstellung meines Gesichts nicht abschrecken. Mein Vater ließ mich nicht zu Athem kommen. Die Trauerzeit um meine Mutter ging zu Ende, und meinen Schmerz konnte die Zeit nicht hinwegnehmen. Ich konnte weder das eine noch das andere anführen, um mein Versprechen zu umgehen; ich mußte es erfüllen. Der Tag, der mich für immer Ihnen und mir nehmen sollte, schien mir mein letzter. Ich würde die Zurüstungen zu meinem Begräbniß mit weniger Grauen angesehen haben, als die zu meiner Hochzeit. Je näher ich dem verhängnißvollen Augenblicke kam, desto weniger vermochte ich meine erste Neigung aus meinem Herzen zu reißen; sie wurde durch meine Anstrengungen, sie zu unterdrücken, nur noch heftiger gereizt. Endlich wurde ich es müde, vergeblich zu kämpfen. In dem Augenblicke da ich mich bereit machte, einem Andern ewige Treue zu schwören, schwor noch mein Herz Ihnen ewige Liebe, und ich wurde zu dem Tempel geführt, wie ein unreines Opfer, das den Altar entweiht, auf welchem es dargebracht werden soll.
In der Kirche fühlte ich beim Eintritt eine Aufregung, die mir ganz neu war. Eine Furcht, die ich nicht beschreiben kann, ergriff meine Seele an dieser einfachen, erhabenen Stätte, die ganz erfüllt war von der Majestät Dessen, dem man dort dient. Es durchfuhr mich ein Schauer; zitternd und einer Ohnmacht nahe, hatte ich Mühe mich bis an den Fuß des Altars zu schleppen. Weit entfernt zu mir zu kommen, fühlte ich während der Ceremonie meine Verwirrung wachsen; wenn ich noch irgend einen Gegenstand sah, so erschien er mir nur wie ein Schreckbild. Das gebrochene Licht des Gebäudes, das tiefe Schweigen der Zuschauer, ihre bescheidene, gesammelte Haltung, die Anwesenheit aller meiner Verwandten, der Ehrfurcht gebietende Anblick meines Vaters, Alles gab dem, was vorgehen sollte, einen feierlichen Anstrich, der mich zur Aufmerksamkeit und zu frommer Scheu nöthigte und mich bei dem bloßen Gedanken an einen Meineid zittern gemacht hätte. Ich glaubte in dem Priester, der die heilige Liturgie ernst und gemessen ablas, das Organ der Vorsehung zu erblicken und die Stimme Gottes zu vernehmen. Die Reinheit, Würdigkeit, Heiligkeit der Ehe, so eindringlich ausgesprochen in den Worten der Schrift, ihre keuschen, hohen Pflichten, so wichtig zum Glücke, zur Ordnung, zum Frieden, zur Fortdauer des menschlichen Geschlechtes, so süß zu erfüllen an sich selbst — dies Alles machte mir einen solchen Eindruck, daß ich inwendig eine jähe Revolution zu fühlen glaubte. Eine unbekannte Macht schien plötzlich die Unordnung der inneren Regungen zu schlichten, und sie nach dem Gesetze der Pflicht und der Natur wiederherzustellen. Das ewige Auge, welches Alles sieht, sagte ich bei mir selbst, liest jetzt im Grunde meines Herzens, vergleicht meinen geheimen Willen mit der Antwort meines Mundes; Himmel und Erde sind Zeugen der heiligen Verpflichtung, die ich übernehme, und sie werden auch Zeugen sein der Treue, mit welcher ich sie erfülle. Welches Recht kann unter den Menschen Der achten, der das erste von allen zu verletzen wagt?
Ein zufälliger Blick auf Herrn und Frau v. Orbe, die ich neben einander stehen und mich mit Augen der Rührung betrachten sah, bewegte mich noch gewaltiger als alles Uebrige. Liebenswürdiges, tugendhaftes Paar, seid ihr, weil ihr die Liebe weniger kanntet, weniger vereint? Pflicht und Sittlichkeit binden euch; zärtliche Freunde, treue Gatten, nicht entflammt von einer rasenden Glut, welche die Seele verzehrt, liebet ihr euch mit reinen sanften Gefühlen, welche sie nähren, Gefühlen, welche die Sitte heiligt und die Vernunft leitet; euer Glück ist nur um desto wahrer und dauerhafter. Ach, könnte ich in einem ähnlichen Bande dieselbe Unschuld wiedererwerben und dasselbe Glück