Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)
Betreff der vorgeblichen Liaisons, welche durch Ehebruch und Untreue zwischen Familien begründet werden können, muß man sagen, daß dies weniger ein ernsthafter Grund als ein dummer und plumper Spaß ist, der statt aller Antwort nur Verachtung und Unwillen verdient. Die Verräthereien, die Händel, die Mordthaten, die Vergiftungen, mit denen diese Unordnung zu allen Zeiten die Erde bedeckt hat, zeigen hinlänglich, was man für die Ruhe und Eintracht der Menschen von einer durch Verbrechen herbeigeführten Freundschaft zu erwarten hat. Wenn eine Art Einigkeit die Folge eines solchen elenden verächtlichen Umgangs ist, so gleicht sie eher der einer Räuberbande, die man ausrotten und vertilgen muß, um die rechtmäßigen Gesellschaften sicher zu stellen.
Ich habe meine Entrüstung über dergleichen Grundsätze zurückzuhalten gesucht, um mich ruhig darüber gegen Sie auszusprechen. Je sinnloser ich sie finde, desto weniger darf ich es verschmähen, sie zu widerlegen, damit ich mich selbst beschäme, wenn ich ihnen vielleicht mit zu wenig Abneigung Gehör gab. Sie sehen, wie schlecht sie die Prüfung der gesunden Vernunft aushalten. Wo aber soll man die gesunde Vernunft suchen als bei Dem, der ihre Quelle ist? und was soll man von Denen denken, die diese göttliche Leuchte, die Er ihnen gab, um den Weg zu zeigen, dazu gebrauchen, daß sie die Menschen in's Verderben führen? Trauen wir einer solchen Philosophie nicht, die in Worten kramt; trauen wir einer Tugend nicht, die alle Tugenden untergräbt, und sich dazu hergiebt, alle Laster zu rechtfertigen. um ihnen allen ungestraftfröhnen zu können. Das Mittel, um das, was gut ist, zu finden, ist, daß man es aufrichtig suche, und man kann nicht lange so danach suchen, ohne zu dem Urquell alles Guten hinaufzusteigen. Das habe ich, wie mich dünkt, gethan, seitdem ich mich damit beschäftige, meine Gefühle und meine Vernunft zu berichtigen; das werden Sie besser thun als ich, wenn Sie denselben Weg betreten wollen. Es ist mir tröstlich, zu denken, daß Sie meinen Geist oft mit den erhabenen Gedanken der Religion genährt haben, und Sie, dessen Herz nichts vor mir geheim hielt, würden sich nicht so gegen mich ausgesprochen haben, wenn Sie anders gedacht hätten. Es dünkt mich sogar, als hätten dergleichen Gespräche einen besonderen Reiz für uns gehabt. Die Gegenwart des höchsten Wesens war uns niemals lästig; sie flößte uns mehr Hoffnung als Furcht ein: sie ist immer nur der Seele des Bösen schreckhaft gewesen; wir hatten sie gern zum Zeugen unserer Gespräche, um uns vereinigt zu Ihm zu erheben. Wenn wir uns manchmal in Scham gedemüthigt fühlten, sagten wir, unsere Schwachheit beseufzend: Er liest wenigstens im Grunde unserer Herzen! und waren ruhiger.
Wenn uns diese Sicherheit irreführte, so ist es nun der Grund, auf dem sie ruhte, der uns zur Umkehr bringt, Ist es nicht eines Menschen recht unwürdig, nie zum Einklange mit sich selbst gelangen zu können, eine Regel für sein Denken, eine andere für sein Handeln zu haben, zu denken, als wäre er ohne Leib, zu handeln, als hätte er keine Seele, und nichts von Allem, was er in seinem Leben thut, auf sein ganzes ungetheiltes Ich zu beziehen? Was mich betrifft, so finde ich, daß man mit unseren alten Grundsätzen sehr stark ist, wofern man es nur nicht beim eitlen Speculiren bewenden läßt. Schwach ist der Mensch, und der barmherzige Gott, der ihn schuf, wird ihm die Schwachheit ohne Zweifel verzeihen; aber verbrecherisch ist der Böse, und wird nicht ungestraft bleiben vor dem Urquell aller Gerechtigkeit. Ein Glaubenloser, der übrigens glücklich begabt ist, übt Tugenden, weil er sie liebt, thut das Gute aus Neigung, nicht aus Wahl. Wenn all sein Trachten auf das Rechte geht, so folgt er ihm ungezwungen; er würde ihm aber ebenso folgen, wenn es umgekehrt wäre, denn weswegen sollte er sich Zwang anthun? Der aber, welcher den Vater aller Menschen erkennt und ihm dient, weiß, daß er eine höhere Bestimmung hat; die Lust, sie zu erfüllen, beseelt seinen Eifer, und einer zuverlässigeren Regel folgend als seinen Neigungen, weiß er das Gute zu thun, das ihm schwerfällt, und die Neigungen seines Herzens dem Gebote der Pflicht zu opfern. Zu solchem heldenmüthigen Opfer, o mein Freund, sind wir berufen. Die Liebe, welche uns vereinigte, würde unserem Leben seinen Reiz verliehen haben, Sie überlebte die Hoffnung, sie hat der Zeit und der Trennung getrotzt, hat alle Prüfungen bestanden. Ein so vollkommenes Gefühl durfte nicht an sich selber sterben; es war werth, der Tugend allein zum Opfer dargebracht zu werden.
Ich muß noch weiter gehen: Alles ist zwischen uns verändert, auch Ihr Herz müssen Sie nothwendig ändern. Julie von Wolmar ist nicht mehr Ihre alte Julie; eine gänzliche Umgestaltung Ihrer Gefühle für sie ist unvermeidlich, und es bleibt Ihnen keine andere Wahl, Sie müssen mit diesem Wechsel entweder dem Laster oder der Tugend die Ehre geben. Ich habe eine Stelle im Gedächtniß von einem Autor, den Sie nicht verwerfen werden: „Die Liebe," sagt er, „ist ihres größten Reizes beraubt, wenn sie aufhört ehrenwerth zu sein: um ihren ganzen Werth zu fühlen, muß sich das Herz in ihr gefallen, und muß uns erheben, indem es den geliebten Gegenstand erbebt. Nehmen Sie das Ideal der Vollkommenheit hinweg, und Sie nehmen alle Begeisterung hinweg; nehmen Sie die Achtung hinweg, und die Liebe ist nichts mehr. Wie könnte eine Frau einen Mann ehren, der sich selbst entehrt? Wie wird er selber Die anbeten können, die keine Scheu getragen hat, sich einem gemeinen Verführer hinzugeben? Sie werden sich also bald gegenseitig verachten; die Liebe wird für sie nichts mehr als ein schändlicher Umgang sein; sie werden die Ehre verloren und nicht das Glück gefunden haben [Siehe im 24. Briefe der 1. Abtheilung.].“ Da haben Sie unsere Aufgabe, Freund, Sie selbst haben sie vorgezeichnet. Nie haben sich unsere Herzen köstlicher geliebt, und nie war die Sittlichkeit ihnen theuerer, als in der glücklichen Zeit, da jener Brief geschrieben ward. Sehen Sie also, wohin eine strafbare Liebe, genährt auf Kosten der süßesten Seelengenüsse, uns führen würde! DerAbscheu vor dem Laster, welcher uns beiden so natürlich ist, würde sich in einem jeden von uns bald auf den Mitschuldigen seiner Frevel erstrecken, wir würden uns hassen, weil wir uns zu sehr geliebt und die Liebe würde unter Gewissensbissen sterben. Ist es nicht besser, eine so süße Empfindung zu läutern, um ihr Dauer zu geben? Ist es nicht besser, wenigstens das zu retten, was sich an ihr mit der Unschuld verträgt? Heißt das nicht, gerade das Reizendste an ihr sich retten? Ja, mein guter, würdiger Freund, um uns stets lieb zu behalten, müssen wir auf einander verzichten. Vergessen wir alles Andere, und seien Sie der Geliebte meiner Seele. Dieser Gedanke ist so süß, daß er um Alles tröstet.
So haben Sie nun eine treue Schilderung meines Lebens und eine kunstlose Geschichte alles Dessen, was in meinem Herzen vorgegangen ist. Ich liebe Sie noch immer, zweifeln Sie nicht daran. Das Gefühl, das mich an Sie bindet, ist noch so zärtlich und so lebhaft, daß eine Andere als ich vielleicht dadurch beunruhigt würde; ich habe eines kennen gelernt, das zu verschieden davon war, um mich dem gegenwärtigen nicht anvertrauen zu dürfen. Ich fühle, daß es seine Natur verändert hat, und in dieser Hinsicht wenigstens machen meine vergangenen Fehltritte die Grundlage meiner Sicherheit aus. Ich weiß, daß der strenge Wohlstand und die Paradetugend noch mehr fodern und sich nicht zufrieden geben werden, wenn Sie nicht ganz und gar vergessen wären. Ich glaube eine zuverlässigere Richtschnur zu besitzen und halte mich daran. Ich frage im Stillen mein Gewissen; es wirft mir nichts vor, und niemals trügt es eine Seele, die es aufrichtig zu Rathe zieht. Wenn dies nicht genügt, um mich vor der Welt zu rechtfertigen, so genügt es zu meiner eigenen Ruhe. Wie ist diese glückliche Umwandlung möglich geworden? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich sie lebhaft gewünscht habe. Gott allein hat das Uebrige gethan. Ich möchte denken, daß eine einmal verderbte Seele verderbt für immer sein müsse, und nicht von selbst wieder zum Guten gelangen könne, es sei denn, daß irgend ein plötzlicher Umschwung, eine unerwartete Veränderung in den äußeren Verhältnissen plötzlich alle ihre Beziehungen ändere und durch einen derben Stoß ihr wieder auf den rechten Weg helfe. Wenn alle Gewohnheiten umgestürzt, alle Leidenschaften abgelenkt werden, so könnte es wohl geschehen, daß man, durch die allgemeine Erschütterung wieder in sein ursprüngliches Wesen zurückversetzt, gleichsam ein neues Geschöpf würde, das von Frischem aus den Händen der Natur hervorgeht. Dann mag das Andenken an die frühere Erniedrigung zum Schutzmittel wider einen Rückfall dienen. Gestern war man verworfen und schwach, heute ist man stark und hochherzig. Indem man sich hart neben einander in zwei so verschiedenen Lagen sieht, fühlt man um so mehr den Werth derjenigen, in welche man von Neuem versetzt ist, und wird achtsamer, sich darin zu behaupten. Durch meine Verheiratung habe ich ungefähr das, was ich Ihnen hier deutlich zu machen suche, erfahren. Dieses so gefürchtete Band befreit mich von einer weit furchtbareren Knechtschaft, und mein Gatte wird mir dadurch lieber, daß er mich mir selbst zurückgegeben hat.
Wir waren zu innig mit einander verbunden, als daß unsere Vereinigung, wenn sie einen